Regelmäßig wiederkehrende Feiertage neigen dazu, rituell begangen zu werden. Auch der in seiner langen Geschichte so wandlungsfähige 1.Mai läuft seit der Wiedervereinigung in Berlin nach immer gleichem Schema ab: morgens die Demonstration des DGB mit Kundgebung, nachmittags Straßenfest in Kreuzberg und am frühen Abend die sogenannte revolutionäre Maidemonstration mit an schließender Straßenschlacht.
Wer dachte, der Krieg der NATO gegen Jugoslawien würde das Mai-Ritual aufbrechen, sah sich getäuscht. Dabei sollte diesmal doch alles anders sein. Kriegsgegner hofften auf deutlich steigende Teilnehmerzahlen bei allen Aktionen und unübersehbaren Protest gegen NATO und Bundesregierung. Die Presse beschwor wochenlang den Kiezaufstand von
stand von 1987, als Kreuzberg eine Nacht in der Hand seiner ausgelassen plündernden Bewohner war. Auch die Polizei wollte diesmal alles anders machen. Auf der »revolutionären Demo« sollte die Sensation gelingen, leger uniformierte Polizisten mit Basecaps in der Demonstration mitlaufen zu lassen. Doch die mittelmäßige Realität widerlegte alle freudigen Erwartungen und schlimmen Befürchtungen.Der Krieg in Jugoslawien bewirkte gerade einmal, daß sich die in den letzten Jahren stetig bröckelnden Teinehmerzahlen stabilisierten. Knapp 10.000 Menschen folgten auf der Kundgebung des DGB unter mäßigem Protest der abgewogenen Rede des IG-Medien Vorsitzenden Detlef Hensche, der verlangt, umgehend eine Friedensordnung auf dem Balkan unter Autorität der UN zu schaffen. Nur vereinzelt sind Dokumente der Enttäuschung zu sehen. »Dafür haben wir Euch nicht gewählt« ist auf grünem Grund zu lesen, während rechts und links des Schriftzugs Raketen im Sonnenblumenemblem der grünen Partei einschlagen. Ein Pappschild erinnert an die jüngere Geschichte der alten Tante SPD: »1969 mehr Demokratie wagen. 1999 mehr Panzerwagen.« Ansonsten riecht es nach Bratwurst, Pils und Rock'n Roll.Auch die 15.000, die nachmittags im Gras auf dem Kreuzberger Mariannenplatz lagern, bieten das gewohnte Bild. Mit Kind, Kegel und Hund liegt die Szene wohlig dösend oder angenehm plaudernd in der Sonne und läßt sich von lokalen Punkgrößen beschallen. Der schwarz umflorte Stand der »Mütter gegen den Krieg« fällt zwischen Caipirinhas, Cuba libre und Grillkotellets kaum auf. In allen Köpfen und Gesprächen ist der Krieg zwar präsent, aber auf eine eindeutige, mobilisierende Parole will sich die Skepsis gegenüber der NATO-Intervention nicht bringen lassen.Wer Pogrome für ausländerfreie Zonen in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda nicht dulden wollte und nach der Staatsgewalt gegen den randalierenden Mob rief, kann die mörderische Säuberung des Kosovo nicht gutheißen. Deshalb fällt es den meisten schwer, ihre Erwägungen darauf zu beschränken, daß die NATO eine Bande imperialistischer Aggressoren sei. Wenn der grüne Bürgermeister Kreuzbergs Franz Schulz oder die PDS-Landesvorsitzende Petra Pau dazu aufrufen, sowohl das Morden im Kosovo als auch die Bombardierungen der NATO zu beenden, dann fragen sich viele, wie das eine ohne das andere oder beides gleichzeitig gehen soll.Die »revolutionäre« Maidemonstration weiß da auch keine Antwort. Vorneweg haben sich drei kleine Blöcke aus Kadern der Antifaschistischen Aktion, Autonomen und Jugendlichen der PKK aufgebaut. Diese 300 Leute führen Entschlossenheit vor, heute, hier und überall gegen das »Schweinesystem« zu kämpfen. Dahinter schließen sich 10.000 weitere Demonstranten an, die sich überwiegend als schaulustige Kinder der Erlebnisgesellschaft zu erkennen geben. Die Bewegung autonomer Anarchisten aus den achtziger Jahren existiert nicht mehr. Den Ton geben mit Perücken, Mützen und Sonnenbrillen getarnte Aktivisten der Antifaschistischen Aktion an, die sich eher als Kommunisten verstehen. Über dem Zug wehen rote Fahnen, und aus den Lautsprechern ruft Ernst Busch noch einmal die Arbeiter und Bauern auf, die Gewehre zu nehmen, um die faschistischen Räuberheere zu zerschlagen. Die vorgeführte Empörung ist kalt und straff organisiert. Spontane Leidenschaft, die aus dem Augenblick und der konkreten Situation des Krieges geboren ist, ist nirgendwo zu spüren.Gegen halb acht zockelt der Zug gemütlich los in Richtung Neukölln. Die massive Präsenz von 5.000 Polizeibeamten und die martialischen Kontrollen im Vorfeld haben niemand aus der Ruhe bringen können. Kneipen und Bars sind offen, die Bratwurst auf der Straße ist mit 3,- DM etwas teurer als beim DGB. Auf einem Tieflader in der Mitte des Zuges versuchen »Atari teenage riot« und ihr Chef Alec Empire vergeblich, das Publikum in Fahrt zu bringen.Als schon keiner mehr damit rechnet, ist auf einmal kurz vor dem Hohenstaufenplatz, auf dem die Abschlußkundgebung stattfinden sollte, die Luft voller Steine und Tränengas. Die Menge flüchtet panisch zurück und verknäult sich, weil das Ende der Demonstration nachrückt. Alle Auswege sind rechtswidrig versperrt. Die Polizei will offenkundig verhindern, daß die Demonstranten über den Kottbusser Damm, der geradewegs nach Kreuzberg führt, zurückfluten oder sich in die Neuköllner Seitenstraßen verteilen. Im Ansturm aus Aufruhr und Panik gibt die Polizei schließlich nach. Der Weg aus dem Hexenkessel ist frei.Die Scharmützel verlagern sich langsam nach Kreuzberg. Die Polizeiführung scheint sich nicht einig, was zu tun ist. Die Kräfte vor Ort nehmen das Heft selbst in die Hand. Ein Beamter wird später in der Tagespresse zitiert: »Die Kollegen drehen völlig durch, die schlagen auf alles.« Auf den Straßen sind Personen mit blutenden Kopfverletzungen zu sehen. Umgekippte Bauwagen und Glascontainer, brennende Müllltonnen und eingeworfene Schaufensterscheiben komplettieren das Bild. Gegen Mitternacht tritt allmählich Ruhe ein. Am Ende melden Polizei und Justiz 133 Festnahmen, 16 Haftbefehle und 150 verletzte Beamte. Die Zahl der verletzten Demonstranten bleibt wie stets im Dunkeln. Der 1. Mai 1999 war wie immer. Auch im Jahr 2000 wird es vermutlich heißen: »Same procedure as last year, Miss Sophie?« »Same procedure as every year, James!«