Der Hellseher Albert Lehmann scheint der einzige zu sein, der schon heute das Ergebnis der Berliner Abgeordnetenhauswahl deutlich vor Augen hat. Zu Wochenanfang ließ er die Berliner wissen, im Grundsatz sei die Sache klar: SPD, Grüne und PDS holten stark auf, aber die CDU bleibe stärkste Partei. Die Folge würden chaotische Verhältnisse und ein CDU-Minderheitssenat unter Eberhard Diepgen sein, der sich nicht lange halten werde. Wie's danach weitergeht, hat Lehmann leider nicht verraten.
Wer Hellsehern nicht vertraut, findet auch bei Umfragen keinen Halt. Niemand kann auch nur annähernd prognostizieren, was die Wähler am 10. Oktober in der Wahlkabine tun werden. Und die Reaktion von SPD und CDU auf das Wahlergebnis könnte ebenfalls noch manche Über
Überraschung bergen. Reicht es am Ende zum ersten Mal seit der Vereinigung für eine rot-grüne Mehrheit aus eigener Kraft? Bleibt die CDU stärkste Partei und läßt sich die SPD erneut in die Große Koalition zwingen? Und wenn die SPD stärkste Partei würde: steht die CDU dann ihrerseits als Juniorpartner zur Verfügung? Oder wird sie sich ihre Bundespartei zum Vorbild nehmen, die am Abend der Bundestagswahl den Weg in die Opposition bereits ankündigte, als die eigene Mehrheit für Rot-Grün noch keineswegs gesichert war?Unmöglich scheint gar nichts. Der SPD-Vorsitzende Strieder dachte deshalb laut über die Tolerierung von Rot-Grün durch eine CDU ohne Diepgen und Landowsky nach. Walter Momper orakelte über viele denkbare Konstellationen und wollte nur eins mit Gewißheit ausgeschlossen wissen: die Tolerierung durch die PDS. Das Flehen der SPD, sich dieser Äußerung anzuschließen, haben die Berliner Grünen inzwischen erhört. 86 Prozent der Delegierten stimmten einem Antrag des Vorstands zu, in dem es heißt: »Es wird in Berlin - schon wegen der von uns zur Kenntnis genommenen Haltung der SPD und ihres Spitzenkandidaten Walter Momper - weder zu einer Koalition mit noch zu einer Tolerierung durch die PDS kommen.«Nach aller Erfahrung wird das die CDU nicht hindern, SPD und Bündnisgrüne weiterhin als unsichere Kantonisten und Steigbügelhalter der Kommunisten zu brandmarken. Der Verweis auf Mompers »Wortbruch« von 1989 wird in keiner Rede Diepgens fehlen. Damals hatte Momper erklärt, keine Koalition mit den Alternativen eingehen zu wollen, was bei in Sprachakrobatik ungeübten Menschen den Eindruck hinterließ, er hätte es auch nicht tun dürfen, als er es tun mußte, um regieren zu können.Jetzt haben die Grünen so ein Sätzchen in ihrem Beschluß, auf das sich alle Argusaugen richten: »Für die soziale und ökologische Entwicklung der Stadt sind alle Regierungskonstellationen unter Beteiligung von Bündnis 90/ Die Grünen besser als die Fortsetzung der siechen Großen Koalition.« Der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele hebt diesen Satz besonders hervor und betont mit Nachdruck: »Nicht wir haben die Tür zugeschlagen. Es waren andere, die das getan haben.«Liest man die grüne Koalitionsaussage im Zusammenhang, so lautet sie bar jeder Camouflage: Auch eine Minderheitsregierung, die sich ihre Mehrheiten im Parlament vorzugsweise bei der PDS suchen muß, wäre für das Wohl der Stadt besser als die Fortsetzung der Großen Koalition - bloß, politisch machbar und gesellschaftlich tragfähig ist sie nicht. Der PDS werfen die Grünen in ihrem Beschluß vor, das ihrige zu dieser Situation beigetragen zu haben: »Die jüngsten Äußerungen aus der PDS zeigen: die kritische Aufarbeitung stagniert, der Wunsch nach einem Schlußstrich scheint innerhalb der PDS übermächtig.«In der Tat ist die Stimmung bei den Grünen in den letzten Wochen endgültig gekippt. Erst kam die Forderung nach Haftentschädigung für Täter auf, die in der DDR Unrecht begangen hatten. Dann fand das frisch gewählte Vorstandsmitglied Michael Benjamin an der Mauer besonders erwähnenswert, daß sie der Entspannung gedient habe. »Ohne diese demonstrative Haltung von Teilen der PDS - Marke ÂWir sind wieder wer und ÂDie Scham ist vorbei - wäre es weitaus schwerer gewesen, Geschlossenheit herzustellen,« meinte dazu der grüne Vorstandsprecher Andreas Schulze nach dem Beschluß. Selbstkritische Aussagen wie die von Pau und Wolf zum 17.Juni oder der Brief von Bisky und Gysi an Richard von Weizsäcker seien dahinter verblaßt.In der PDS-Debatte, die in dieser Zeitung zur Zeit läuft, findet sich dazu ein interessanter Satz von Michael Chrapa: »Gerade weil die Gesellschaft ausdifferenziert (...) ist, bedeutet ein Ringen um Mehrheiten auch das Erlangen von subjektiver Zustimmung durch sehr verschiedenartige Akteure mit unterschiedlichen mentalen Haltungen.« Eine solche Mentalität ist der antiautoritäre und radikaldemokratische Antikommunismus, der bei Bündnis 90/ Die Grünen zuhause ist und sich aus der Revolte von 68, der Anti-AKW-Bewegung und dem Herbst 89 herleitet.Da wird dann sehr genau darauf gesehen, daß 1995 von zehn reformsozialistischen Thesen des PDS-Vorstands nur »Fünf Punkte zur Diskussion« den Parteitag heil überstanden. Da hört man die Autolobby von Hohenschönhausen, bemerkt die Zufriedenheit manches Bürgermeisters, »kein Asylantenheim zu haben«, und wundert sich über konservative Parteigänger, die früher Militär im Stechschritt schätzten und Demonstrationen nur duldeten, wenn sie als Staatsveranstaltung stattfanden. Da wartet man auf ein befreiendes Zeichen, auf einen Parteitagsbeschluß, der schwarz auf weiß eine klare Bewertung der Vergangenheit zu Papier brächte - auch um den Preis, die eine oder andere »Plattform« zu verlieren.SPD und Bündnisgrüne wissen um das dünne Eis, auf dem sich rot-grüne Regierungen bewegen, und sagen sich: Solange sich die PDS nicht klar gesamtdeutsch positionieren will oder kann, bleibt sie eine rein ostdeutsche Antwort auf gesamtdeutsche Probleme und trägt eher dazu bei, die notwendige Akzeptanz einer Regierung im Westen zu schwächen, als sie zu stärken. Im Ost-West -Labor Berlin scheint für SPD und Grüne fürs erste entschieden, welche Konsequenz daraus zu ziehen ist. Das letzte Wort haben demnächst die Wählerinnen und Wähler.