Befreiter Nationalismus

KOSOVO Wie der Kampf gegen die ethnische Säuberung zu einer ethnischen Säuberung führte

Der Kosovo ist befreit. Er ist frei von den Vertreibungen der kosovo-albanischen Bevölkerungsmehrheit, frei von den Massakern der serbischen Sicherheitskräfte - und er ist weitgehend serbenfrei. Fast alle kosovo-albanischen Flüchtlinge sind aus den Nachbarländern zurückgekehrt, der Wiederaufbau hat zaghaft begonnen. Ab und zu findet man noch ein unbekanntes Massengrab, ab und an brennt ein weiteres serbisches Haus nieder, und jeden Abend feiern die Leute auf den Straßen und Plätzen Prishtinas und Prizrens. Kosovo ist frei, hört man überall. Es ist frei von der alten serbischen Unterdrückung, und frei von Minderheiten, frei von Serben und Roma - wenn man von kleinen Enklaven einmal absieht.

Wer heute durch Kosovo fährt, entdeckt immer noch unzählige ausgebrannte Häuser, anderen wurden die Dächer weg gesprengt. Serbische Polizei, Milizen oder Militär hatten eine simple Technik entwickelt, solche Zerstörungen ohne Kraftaufwand anzurichten: in ein albanisches Haus eindringen, im Erdgeschoß eine Gasflasche öffnen, unter dem Dach eine Kerze anstecken - und abwarten. Es dürfte kaum eine einfachere und wirksamere Methode geben, Gebäude zu zerstören. Und so stehen überall im Land Häuser, deren Fassaden in Ordnung, die von innen aber verwüstet sind und denen die Dächer ganz oder zum großen Teil fehlen. 120.000 zerstörte oder beschädigte Häuser soll es im Kosovo geben.

Kaum ein Kosovo-Albaner, der nicht aus seinem Familien- oder Bekanntenkreis grausige Geschichten der Brutalität und Unterdrückung erzählen kann. Die Vergewaltigung der Schwester, der Mord an Mutter und Onkel, die Folter eines Freundes, die durchschnittene Kehle eines Bekannten. In den Bergen nördlich von Prizren ist die Zerstörung der kleinen Dörfer und Gehöfte noch schlimmer. Aber hier erfolgte sie bei Kampfhandlungen: Die UÇK hatte dort ihre Rückzugsgebiete, und die Dörfer wurden von der jugoslawischen Armee angegriffen.

Jetzt sind die serbischen Militärs vertrieben, was von den meisten Menschen mit Freiheit gleichgesetzt wird. Das Kosovo ist ein internationales Protektorat, besetzt, beschützt und verwaltet von der KFOR. Kinder am Straßenrand jubeln Militärfahrzeugen zu: »NATO, NATO«. Aber so sehr die ausländischen Truppen begrüßt werden, so wenig bekommen sie - oder die zivile UNO-Verwaltung (UNMIK) - zentrale Probleme in den Griff.

Beispiel eins: die allgemeine Sicherheitslage. Der Kosovo ist traumatisiert und militarisiert. Waffen werden nicht mehr überall offen gezeigt, sind aber weit verbreitet. Es gibt eine Kultur der Gewalt, hinter politischen Fassaden werden persönliche Rechnungen beglichen und Schäfchen ins Trockene gebracht. Mafia-Strukturen, Kriminalität und politischer Druck führen zu Unsicherheit, Einschüchterung und Gewalt. Auf Dauer wird so nicht nur ein demokratischer Aufbau unmöglich, es untergräbt auch die Autorität und Legitimität des Protektoratsregimes. Die Militärpolizei steht diesen Entwicklungen machtlos gegenüber: sie kennt weder Land, noch Leute oder Sprache. Sie ist überfordert und personell nicht dazu in der Lage - von der fehlenden Ausbildung einmal ganz zu schweigen. Eine einheimische Polizei gibt es nicht mehr, und die internationale Polizeitruppe wird lähmend langsam aufgebaut. Wenn endlich internationale Polizisten eingetroffen sind, dann beschweren sich Einheimische, dass die »nur in den Cafés herumsitzen und nichts tun«. Das mag ungerecht sein, aber es spiegelt zumindest das Bedürfnis nach Schutz und die reale Hilflosigkeit der Polizei.

Beispiel zwei: Der Schutz von Minderheiten. Im Kosovo und auf dem diplomatischen Parkett ist viel von einer »multi-ethnischen« Zukunft die Rede. Das ist entweder Propaganda oder Wunschdenken, zumindest wenn sich der gegenwärtige Trend fortsetzt. Im Gegensatz zu manchen Regionen Bosniens war der Kosovo schon lange nicht mehr wirklich multi-ethnisch: Der serbische Bevölkerungsanteil sank kontinuierlich, der Anteil der Kosovo-Albaner betrug schließlich 85 bis 90 Prozent, gegenüber nur 68 Prozent im Jahr 1948. Das Problem lag im doppelten Konflikt von Mehrheit und Minderheit im Kosovo: Die Albaner stellten im Kosovo die überwältigende Mehrheit, in Gesamtjugoslawien eine kleine Minderheit dar - für die Serben war es umgekehrt.

Dieses wechselseitig kaum erträgliche Zusammenleben besser zu regeln - etwa durch Minderheitenschutz und gleiche Bürgerrechte - ist sinnvoll und notwendig, aber noch keine »multi-ethnische Gesellschaft«. Und vor allem: Nachdem - von kleinen Enklaven abgesehen - fast alle Nicht-Albaner geflohen sind oder aus dem Land getrieben werden, fehlt einer solchen Entwicklung jede Grundlage. Die geflohenen Serben und Roma werden ohne massiven, auch gewaltsamen Schutz nicht zurückkehren - so wie die Albaner ohne die NATO nicht zurückgekehrt wären. Wer mit Flüchtlingen in Serbien oder Montenegro spricht, hört oft, dass sie ohne die serbische Armee keine Rückkehr wagen könnten. Politisch bedeutet das: Eine Rückführung der geflohenen Serben ist einerseits die Vorbedingung für ein multi-ethnisches Zusammenleben - sie dürfte aber nur unter Zwang und gegen der Willen der albanischen Bevölkerung möglich sein - womit diese Möglichkeit praktisch ausgeschlossen werden kann. Es ist nicht erkennbar, dass die KFOR bereit wäre, den Kosovo-Albanern ihre ehemaligen serbischen Nachbarn aufzuzwingen.

Beispiel drei: nach geltendem Völkerrecht und der offiziellen Position von NATO und Bundesregierung bleibt Kosovo ein integraler Bestandteil Serbiens und damit Jugoslawiens. Daran wäre weiter nichts auszusetzen, im Gegenteil. Aber: Die Bevölkerung des Kosovo lehnt diese Auffassung fast geschlossen ab. Heute besteht bereits eine De-Facto-Unabhängigkeit, die sich mit fortschreitender Zeit verfestigt. Für UNO, NATO und KFOR ergibt sich daraus ein unauflösbares Dilemma: Entweder man gibt die völkerrechtlich richtige Position auf, weil sie vor Ort nicht mehr durchsetzbar ist, oder man muss die Kosovaren zwingen, ihr Selbstbestimmungsrecht dem Prinzip der territorialen Integrität eines »feindlichen« Staates zu opfern. Wie das auf Dauer gelingen soll, ist nicht einmal ansatzweise zu erkennen.

Die aktuellen Probleme hingegen sind meist nicht militärischer, sondern politischer Natur. Dennoch muss sich - wegen der Schwäche der UNMIK und fehlender politischer Konzepte der internationalen Gemeinschaft (praktisch also der NATO-Mitgliedsländer) - vor allem die KFOR mit ihnen herumschlagen. Und so beliebt die fremden Soldaten heute noch im Kosovo sind - die Zeit arbeitet gegen sie. Da sie von den Politikern mit unlösbaren Aufgaben betraut werden, ist ihr Scheitern absehbar. Sie sollen den Schutz der Minderheiten garantieren, dürfen aber die Mehrheit nicht gegen sich aufbringen.

Wichtige politische Kräfte der kosovo-albanischen Bevölkerung sabotieren bereits jetzt die Sicherheitsrolle der KFOR: So schüchtert - nach Aussage von Bundeswehrsoldaten - die UÇK Übersetzer der KFOR ein oder zwingt sie zur Kündigung. Wie aber soll die Militärpolizei Verbrechen und Vertreibungen untersuchen oder gar die Schuldigen aburteilen, wenn sie Verdächtige oder Zeugen mangels zuverlässiger Übersetzer nicht einmal befragen kann. In anderen Fällen bemüht sich die KFOR um die Bekämpfung der Brandstiftungen an von Serben und Roma bewohnten Häusern. Aber das scheitert oft schon an den einfachsten Dingen: Die Feuerwehr ist kaum interessiert, serbische Häuser zu löschen, sie ruft - ebenfalls nach Aussage von Soldaten - zuerst bei der UÇK an, ob man löschen solle. Wenn sie dann auf Druck der KFOR doch zum Löschen anrückt - hat sie aber jedesmal nur für zehn Minuten Wasser dabei, so dass eine wirksame Brandbekämpfung unmöglich ist.

Letztlich steuert alles auf einen Machtkampf zwischen KFOR und UÇK zu: wenn die internationalen Militärs ihre Aufgaben ernst nehmen, werden sie vor allem die UÇK in die Schranken weisen müssen, die systematisch eigene Verwaltungsstrukturen parallel zur UNMIK aufbaut und gleichzeitig versucht, die offiziellen zu infiltrieren. Dem passiv zuzusehen dient der kurzfristigen Konfliktvermeidung, liefert das Kosovo aber mittelfristig der UÇK aus - und das zu einem Zeitpunkt, da die erstmal in der Bevölkerung an Ansehen verliert. Die UÇK ist handlungsfähig und aktiv, wodurch sie sich deutlich von Rugovas LDK oder dem gewählten Parlament unterscheidet - aber sie ist nicht demokratisch, sie will die ethnische Säuberung des Kosovo von allen Minderheiten, und sie neigt zu Einschüchterung und Zwang, um ihre Ziele zu erreichen. Auch ihre Nähe zu mafia-ähnlichen Strukturen und Fälle der Bereicherung mindern inzwischen die Sympathie der Bevölkerung. Die UÇK-Führung ist bereits jetzt der Auffassung, dass die NATO mit dem Sieg über MilosŠevic´ ihre Ziele erreicht habe und sich besser heute als morgen aus dem Kosovo zurückziehen solle - die NATO ist das einzig relevante Gegengewicht zur Machtergreifung der UÇK.

Eine systematische Politik der KFOR gegen die UÇK ist aber nicht erkennbar und wäre auch schwierig, wenn sie nicht selbst in Bedrängnis geraten möchte. Das letzte, was sie möchte, wäre nämlich, von einer Befreiungs- zu einer Besatzungsarmee zu werden: bei regelmäßigen Angriffen von UÇK oder undefinierten Kräften der Kosovo-Albaner wäre die Rolle von KFOR im Westen kaum noch zu vermitteln, von den negativen Auswirkungen auf die Soldaten vor Ort ganz zu schweigen. Deshalb folgen KFOR und UNMIK gegenüber der UÇK einem Schlingerkurs: Wissend, dass diese Organisation mit skrupellosen Mitteln die Macht an sich reißen möchte, ist man doch in den meisten praktischen Fragen auf ihre Kooperation angewiesen. Manche Soldaten drücken das noch drastischer aus: natürlich sei die UÇK eine Verbrechertruppe, eine Art Mafia - aber man sei ihr gegenüber machtlos.

Die Zukunft des Kosovo wird vor allem von der Lösung dieses Widerspruchs abhängen. Die NATO hat einen Krieg geführt, der nur von negativen Zielen bestimmt war: kein Gesichtsverlust, kein Zurückweichen vor MilosŠevic´, keine ethnischen Säuberungen im Kosovo. Ein positives politisches Konzept hat es nie gegeben, gibt es auch heute noch nicht. Daraus resultiert eine ganze Reihe heikler Widersprüche und Dilemmata. Wenn es nicht gelingt, das Verhältnis des Kosovo zu Serbien in gegenseitigem Einvernehmen zu klären; die Rückkehr und Gleichberechtigung der geflohenen Serben und Roma im Kosovo zu ermöglichen und einen Versöhnungsprozess mit den Kosovo-Albanern zu beginnen; die UÇK an den Rand zu drängen, ohne sie in die Rebellion zu treiben, und die öffentliche Sicherheit auch für die Minderheiten schnell zu gewährleisten - dann hätte die NATO-Intervention den Konfliktherd Kosovo nicht beseitigt, sondern ihm nur eine neue Form gegeben. Gegenwärtig sieht es nicht so aus, als ob auch nur eines dieser Probleme lösbar sei.

Unser Autor hat die beiden grünen Bundestagsabgeordneten Annelie Buntenbach und Steffi Lemke auf einer Reise durch Serbien, Montenegro und Kosovo begleitet.

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