Innenpolitisch sind die Folgen der Terroranschläge noch gar nicht absehbar, und die Spirale der Veränderungen dreht sich so schnell, dass uns fast schwindelig wird. Kurz nach dem Anschlag stellte der Innenminister fest, Deutschland sei durch den Terrorismus nicht bedroht - um eine Woche später ein Drei-Milliarden-Paket für Bundeswehr, Geheimdienste und Polizei durchzupauken. Der Datenschutz, das Einwanderungsrecht, das Religionsprivileg - jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Die Skala halb oder ganz abbaubarer Bürgerrechte scheint beliebig erweiterbar. Der Bundeskanzler spricht zuerst den USA seine Solidarität aus, behält sich konkrete Maßnahmen aber klugerweise vor - um wenige Tage später auch den Einsatz der Bundeswehr nicht auszuschließen. Sein Verteidigungsminister - man würde ihn sich dauerhaft auf Mallorca wünschen - deutet solche Kampfeinsätze gar ohne einen Beschluss des Bundestages an. Das gegenteilige Urteil des Bundesverfassungsgerichts sollte man wohl nicht gar so ernst nehmen. Politisch besteht bereits eine Große Koalition, während die Weiterexistenz der rot-grünen Regierung fraglich wird. Nichts sei nach den Anschlägen wie es vorher war, erklären unisono Kommentatoren wie Politiker - und haben damit Recht. Der Vorwahlkampf ist in vollem Gange. Die deutsche Innenpolitik ist aber natürlich nur ein Nebenkriegsschauplatz - ihre Umbrüche sind Kollateralschäden.
Der neue "Krieg gegen den Terror" ist international, besonders aus US-Perspektive, nicht allein ein Mittel zur Terrorismusbekämpfung. Er zielt vielmehr in mehrere Richtungen. Einmal geht es tatsächlich gegen bin Laden und andere Terrorgruppen. Eine Position, die vor allem Außenminister Powell vertritt. Da mag man fragen, ob Krieg den internationalen Terrorismus nicht langfristig eher anheizt als bekämpft, trotzdem ist diese Zielrichtung real. Zweitens stellt der Krieg eine bloße, wenn auch radikale Ausweitung der Politik zur Niederringung der "Schurkenstaaten" dar. Der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz macht daraus kein Geheimnis. Da ist von "Liquidierung ganzer Staaten" die Rede, was immer das genau bedeuten mag. Drittens - und dafür steht besonders die Nationale Sicherheitsberaterin Rice - geht es um den Sturz der Taleban in Afghanistan - gewissermaßen eine Mittelposition zwischen Powell und Wolfowitz.
Als dieser Text verfasst wurde, schien es noch immer unentschieden, ob die US-Regierung ihre militärischen und zivilen Reaktionen auf den Terror vom 11. September auf konkrete einzelne Terrorgruppen konzentrieren will oder unter diesem Deckmantel einige ihre bewährten Lieblingsfeinde (etwa den Irak) oder zumindest Afghanistan gleich mit erledigen möchte. Dabei wird es vermutlich zu einem der üblichen Kompromisse kommen: "Afghanistan plus".
Viertens schließlich verfügt der neue Anti-Terror-Krieg über eine außenpolitische Dimension, die nur indirekt etwas mit Terror zu tun hat: die verschärfte Homogenisierung des westlichen Lagers unter US-Führung aufgrund des politisch-moralischen Drucks der Anschläge. So wie sich die meisten US-Bürger nun hinter ihren Präsidenten scharen, tun dies auch die NATO-Verbündeten. Blanko-Schecks werden schnell und billig ausgestellt, "bedingungslose" (so Kanzler Schröder) Unterstützung für eine Politik, die man noch gar nicht kennt, ist oberste Bürgerpflicht. Bekenntnisse sind gefragt, die kühle Analyse von Interessen und Politik gerät leicht in den Ruch des "Unmoralischen". Selbst militärische Abenteuer, die man normalerweise für gefährlich und geradezu idiotisch halten würde, werden pauschal und vorbeugend akzeptiert. Darüber hinaus baut die US-Regierung systematisch ein weltweites "Bündnis gegen den Terrorismus" unter eigener Führung auf, das auch möglichst viele arabische und muslimische Staaten einbeziehen soll. Nur bedeutet diese Koalitionsbildung keine Rückkehr zum Multilateralismus. Es geht der Regierung Bush vielmehr darum, ihren Unilateralismus politisch durch eine breite Allianz abzusichern, wie Bushs Vater dies bereits während des Golfkrieges gelungen war. Die Partner dieser Koalition sollen die USA politisch, wirtschaftlich und militärisch unterstützen - Einfluss auf deren Politik bekommen sie nicht.
Der US-Krieg gegen den Terror gewinnt historische Bedeutung also aus seinem Doppelcharakter: Einerseits tatsächlich etwas gegen Terrorgruppen zu unternehmen, was an sich (nicht die militärischen Mittel) sinnvoll und legitim ist - und zugleich die US-dominierte unipolare Grundstruktur des internationalen Systems zu verfestigen und möglichst weit in die Zukunft zu verlängern. Der Kreuzzug gegen die "Schurkenstaaten" und der Solidaritätszwang der Verbündeten und anderer Staaten zementieren die globale Führungsrolle Washingtons. Auch die Militarisierung der Anti-Terror-Maßnahmen muss die USA gegen den Rest der Welt weiter stärken: Wer mit Abstand die militärisch mächtigste Macht ist, dem bringt die Betonung militärischer Mittel weitere Positionsvorteile.
Bedauerlicherweise führt dies zu international schädlichen Folgen. Die Verrechtlichung der internationalen Politik und die Rolle der UNO haben einen weiteren Rückschlag erlitten - Rache ("Vergeltung") ist im Völkerrecht aus gutem Grund nicht vorgesehen. Selbst der beschworene Artikel 5 der NATO-Charta (Bündnisfall) verpflichtet die NATO auf die konfliktlösende Rolle des UN-Systems. Trotzdem ist die UNO wieder in eine Zuschauerrolle gedrängt, da einseitige US-"Vergeltungsschläge" sonst schwieriger wären. Auch deren Anwendung erfolgt hochgradig freihändig: Während das zu Recht verabscheute Taleban-Regime in Afghanistan zum Ziel von Militäroperationen wird, kann von einer Bombardierung etwa des pro-amerikanischen Saudi-Arabien natürlich keine Rede sein - langjährige Verbindungen des Regimes zu bin Laden hin oder her.
Wenn die Bush-Administration der Versuchung nachgibt, eine willkürliche, internationale Lynchjustiz an die Stelle geordneter juristischer Verfahren und des Völkerrechts zu setzen, wenn sie das Risiko eines neuen Afghanistankrieges eingeht - dann wird sie letztlich Öl ins Feuer des Terrorismus gießen und sich den Vorwurf einhandeln, die Barbarei mit barbarischen Mitteln zu bekämpfen. Die Terroristen müssen identifiziert, gefasst, vor Gericht gestellt und abgeurteilt werden. Wer die Anschläge aber zum Anlass nimmt, allerlei zweifelhafte Akteure mit Krieg zu überziehen, die man schon lange "bestrafen" wollte, der treibt auch ein politisches Spielchen mit dem Leid der Opfer.
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