Die Erschießung Osama bin Ladens durch ein US-Spezialkommando im pakistanischen Abbottabad wirft viele Fragen auf. Ist dieser Militäreinsatz als Ausdruck einer neuen US-amerikanischen Militärstrategie zu begreifen, die weniger auf konventionellen Krieg und stärker auf den Einsatz von Elitesoldaten, von Drohnen und ähnliche Mittel setzt? Es gibt durchaus Indizien für eine solche Annahme, etwa das massive Drängen des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, den Irak-Krieg mit wenigen Zehntausenden Elitesoldaten zu führen, oder die Versuche von US-Vizepräsident Biden, in Afghanistan mit weit weniger Soldaten, dafür stärker mit der Luftwaffe, mit Drohnen und einer geringen Zahl von Elitetruppen zu operieren. Tatsächlich werden in der US-Politik wie im Militär seit einigen Jahren intensive Diskussionen über eine neue militärische Strategie geführt.
Allerdings gerät leicht aus dem Blick, dass fast alle Elemente dieser „neuen“ Strategie schon seit Jahrzehnten zum Repertoire des US-Militärs gehören. So hatte bereits Präsident Kennedy mit Blick auf Vietnam und Lateinamerika die stärkere Nutzung von Sondereinsatztruppen befürwortet und diese massiv ausgebaut. Auch die gezielte Tötung von Politikern durch Militär oder CIA ist nicht neu: Nach dem Vietnamkrieg hatte es sogar einen Untersuchungsausschuss des US-Senats gegeben, der Anschläge der USA auf ausländische Staatsoberhäupter zum Gegenstand hatte.
Gestiefelte Botschafter
Die Strategie der Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) wurde in Vorformen bereits vor dem Ersten Weltkrieg angewandt, in systematischer Form ebenfalls unter Kennedy und dann unter Präsident Reagan: Der Krieg im El Salvador der achtziger Jahre stellt den Lehrbuchfall, aber bereits die Aufstandsbekämpfung in den Philippinen Anfang der fünfziger Jahre folgte diesem Muster. In gewissen Sinne ist Counterinsurgency sogar ein Gegenmodell zum Personal minimierenden und „chirurgischen“ Einsatz von Elitesoldaten und Drohnen. Es erfordert besonders viele Soldaten und richtet sich nicht auf Einzelziele, sondern die Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft. Der „surge“ im Irak 2007 und die Truppenaufstockung in Afghanistan unter Obama unterstreichen diesen Punkt. „Boots on the ground“, also möglichst viele Soldaten vor Ort, war hier das Kennzeichen, nicht das Ersetzen von Soldaten durch chirurgische Eingriffe und Technologie. Nur der Einsatz von Drohnen ist wirklich neu, da ihm früher die technologischen Voraussetzungen fehlten – was allerdings durch gezielten Einsatz der Luftwaffe ausgeglichen wurde.
Nun sollte man sich umgekehrt vor dem Missverständnis hüten, als habe sich die US-Militärstrategie nicht geändert. Es geht dabei allerdings nicht um die Ablösung konventioneller Großkriege durch gezielte Schläge von Elitesoldaten und Drohnen, wie nach dem Einsatz gegen bin Laden manchmal spekuliert wird.
Die neuen militärpolitischen Ansätze resultieren aus der Erkenntnis, dass zwischenstaatliche Kriege selten geworden sind. Die wahrscheinlichsten Einsatzformen des US-Militärs bestehen aus kriegerischen und vor-kriegerischen Operationen innerhalb fremder Gesellschaften, vor allem in der Bekämpfung von Aufständen oder deren Unterstützung, so etwa in Nicaragua und Afghanistan in den achtziger Jahren, heute in Libyen. Ein zweiter Schwerpunkt ist die militärisch gestützte Terrorbekämpfung. Hinzu kommen friedenserhaltene und humanitäre Einsätze. Für solche Kriegs- und Einsatzformen waren die USA bis vor kurzem schlecht vorbereitet. Ausbildung, Ausrüstung und Strategie orientierten sich weiterhin an konventionellen Kriegen. Nach Ende des Kalten Krieges – insbesondere seit der Regierungszeit George W. Bushs – wurde hier massiv umgesteuert.
An der Wegscheide
Dabei standen die USA vor einer konzeptionellen Alternative: Entweder knüpft das US-Militär an frühere Konzepte von Counterinsurgency an. Dabei sind Geländegewinn, Feuerkraft der eigenen Truppen, Entscheidungsschlachten und das Töten der Gegner weniger wichtig, als die Bevölkerung des Ziellandes für sich zu gewinnen oder deren Loyalität für die unterstützte Regierung zu erreichen. Das Militär gerät damit in die Rolle eines Unterstützers politischer Prozesse, wäre also strategisch nicht entscheidend. Das Konzept erfordert eine große Zahl an einheimischen sowie US-Truppen und setzt diese zugleich einem hohen Risiko aus.
Die Alternative – wie sie 2009 von Vizepräsident Biden vertreten wurde – besteht in der Reduzierung der US-Truppen und in der verstärkten Nutzung der eigenen militärtechnischen Überlegenheit, etwa durch Drohnen und gezielte Präzisionsschläge einer kleinen Zahl von Eliteeinheiten. Die Attraktivität dieses Ansatzes besteht in geringeren Kosten und im weit geringeren Risiko für die Truppen. Sein Problem besteht darin, dass so zwar gegnerische Kämpfer und Infrastruktur zerstört werden können, dass es aber ungeeignet ist, um in fremden Gesellschaften politische Ziele zu erreichen, etwa einen stabilen Staatsapparat aufzubauen oder eben die Bevölkerung für sich zu gewinnen.
Bezogen auf den Irak und Afghanistan entschieden sich die USA für den Counterinsurgency-Ansatz, wie es die Generäle McCrystal und Petraeus propagierten. Ausbildung, Ausrüstung und Militärstrategie wurden entsprechend umgestellt. Dabei sind allerdings zwei Einschränkungen im Auge zu behalten: Zum einen haben die USA zu keinem Zeitpunkt daran gedacht, ihre militärische Überlegenheit im Falle konventioneller, zwischenstaatlicher Kriege aufzugeben. Die Betonung von Counterinsurgency sollte daher als zweites Standbein des US-Militärs, nicht als Ersatz für dessen konventionelle Fähigkeiten begriffen werden. Es geht den USA darum, unterschiedliche Kriege mit dem jeweils erfolgversprechendsten Ansatz zu führen. Zweitens darf nicht vergessen werden, dass sich der skizzierte Gegensatz von Counterinsurgency und gezielten Militärschlägen nur auf die Grundkonzepte bezieht. Gezielte Operationen sind kein Widerspruch zu Counterinsurgency, sondern werden oft darin integriert, um bestimmte Ziele zu erreichen – wie nun die Erschießung bin Ladens. Sie sind also häufig taktisch nützlich, aber noch keine neue Strategie.
Jochen Hippler, 55, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen
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