An Kriegen und Gewaltkonflikten herrscht kein Mangel. Auch wenn in der Friedensforschung umstritten ist, was genau ein "Krieg" ist, so dürfen wir doch weltweit von einer Zahl von 30 bis 40 Kriegen und großen, gewaltsamen Konflikten ausgehen, die heute zugleich toben. Eines der Probleme dabei besteht darin, dass diese Zahl unsere Aufnahmefähigkeit bei weitem übersteigt: Wer wollte diese Blutvergießen gleichzeitig im Auge behalten oder auch nur aufzählen, wenn man nicht beruflich damit beschäftigt ist? Die Öffentlichkeit pflegt immer nur ihre zwei oder drei Lieblingskriege, der Rest rückt in den Hintergrund, wird weitgehend ignoriert - solange nicht ein direkter Bezug zum eigenen Land besteht oder gerade besonders grauenvolle Gräueltaten bega
egangen werden. Die Balkankriege haben uns lange bewegt, weil sie "direkt vor unserer Haustür" stattfanden und größere Migrationsströme drohten. Afghanistan war eine zeitlang sehr im Bewusstsein, weil die Bundeswehr mit von der Partie war. Unser humanitäres Gewissen ist ebenso selektiv: in der Regel wird es nur aus dem Schlaf gerissen, wenn unsere Lieblingskriege und bevorzugten Massakerregionen betroffen sind: Forderungen nach Luftangriffen in Liberia oder dem Sudan, deutsche Spezialkommandos zur Unterstützung der Tschetschenen gegen russische Menschenrechtsverbrechen sind erfreulich selten gestellt worden. Auch die NATO auf alle 40 Kriegsschauplätze marschieren zu lassen, stand nie auf der Tagesordnung, obwohl das menschliche Leid in den Kriegen Afrikas und Asiens sicher kaum geringer ist, als es im Kosovo war. Aber unsere selektive Wahrnehmung hat uns vor solchen Exzessen des Größenwahns bewahrt, unser Drang zur militärischen Humanität setzt sich meist nur dort durch, wo es Alliierten einen Gefallen zu erweisen gilt. Krieg in Sierra Leone? Nie gehört. Kriege können eskalieren, auf ganz verschiedene Art. Sie können einfach blutiger werden, die Opferzahlen steigen. Wenn dies eine bestimmte Schwelle überschreitet und das Fernsehen von ihnen Notiz nimmt, erschrecken wir für einen historischen Moment. Oder sie können räumlich eskalieren, etwa Nachbarländer einbeziehen, die vorher am Rande des Krieges blieben: Selbst dies muss unsere parteiamtlichen und militärischen Friedensengel nicht unbedingt auf den Plan rufen - wie der Kongokrieg demonstriert, der ja schon länger regionale Ausmaße angenommen hat. Die Eskalation kann auch qualitativ erfolgen, etwa in Bezug auf die Gewaltmittel: der Kaschmir-Konflikt mit der Gefahr eines Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan wäre ein drastisches Beispiel. Die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Kaschmiris, Zehntausende von Toten - alles kein Problem, solange die nukleare Eskalation vermieden werden kann oder der Feldzug in Afghanistan nicht beeinträchtigt wird. All dies geschieht in einem internationalen System, das heute zu Recht als "uni-polar" bezeichnet wird, weil es von einer übermächtigen Supermacht dominiert ist. Wenn die USA das globale System so eindeutig beherrschen - warum sind sie dann nicht in der Lage, die zahlreichen Gewaltkonflikte an der Eskalation zu hindern oder gar zu lösen, wenn auch vermutlich im Sinne ihrer eigenen Interessen? Die Frage ist leichter gestellt als beantwortet. Zuerst einmal ist natürlich offensichtlich, dass Großmächte unter bestimmten Bedingungen selbst Triebkräfte der Eskalation sind: Russland ist nicht unschuldig am Konfliktverlauf in Tschetschenien, Frankreich war es weder in Indochina noch in Algerien, und auch die USA spielen selbst die Karte der Eskalation, wenn es ihnen nützlich erscheint: In der Vergangenheit waren Vietnam, Nikaragua und Grenada Beispiele, das politische Vorspiel vor dem Krieg gegen den Irak im nächsten Jahr macht deutlich, dass sich hier wenig geändert hat. Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass auch viele Maßnahmen, die der Öffentlichkeit als "Krisenlösung" begründet werden, selbst massive Eskalation bedeuten: siehe Kosovo und Afghanistan. Zweitens gibt es Fälle, in denen außenpolitische Rücksichtnahme oder Opportunitätserwägungen ein erfolgreiches Krisenmanagement verhindern. Auf Tschetschenien und Kaschmir wurde bereits verwiesen: dort ist Washington das gute Verhältnis zu Moskau oder New Delhi weit wichtiger als der jeweilige Krieg, dem man nur regionale Bedeutung zuweist. In solchen Fällen respektieren die USA, dass die Kriege "innere Angelegenheit" der jeweiligen Mächte sind - ein Zugeständnis, das man kleineren Ländern wie Serbien oder dem Irak selbstverständlich verweigert. Dann gibt es Fälle, in denen die außenpolitische Handlungsfähigkeit auch durch innenpolitische Erwägungen eingeschränkt wird. Die US-Politik gegen Kuba war und ist ein klassischer Fall (man denke an die Rolle der Exilkubaner), die gegenüber Israel ein neueres Beispiel. Zwar hängt die fast bedingungslose Unterstützung Sharons auch mit der israelischen Rolle als Verbündeter im Nahen Osten zusammen, aber andererseits hat sich diese durch ihre kriegerische Politik inzwischen in der Region auch zu einer Belastung der US-Politik entwickelt. Ohne das Zusammenspiel christlicher Fundamentalisten - die in der Republikanischen Partei des Präsidenten eine wichtige Rolle spielen - mit gut organisierten pro-israelischen Lobbyorganisationen (wie AIPAC: The American Israel Public Affairs Committee; /www.aipac.org/), die mit großzügigen Geldspenden politisch genehme Kandidaten in Wahlkämpfen unterstützen, wären die Politik von Bush und die Passivität gegenüber der israelischen Politik der Eskalation nicht zu erklären. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass auch Großmächte nicht allmächtig sind: Nicht alle Konflikte sind zu jedem Zeitpunkt von außen überhaupt lösbar - eine dominierende Rolle in der Weltpolitik bedeutet nicht, jedes Ziel an jedem Ort der Welt auch durchsetzen zu können. Einfluss und sogar Zwang von außen reichen für eine Konfliktlösung oft nicht aus, wenn vor Ort die Voraussetzungen für eine Friedenslösung fehlen.Homepage des Autors: www.Jochen-Hippler.de