Wunschdenken beschert Wunschträume

Afghanistan Die Tötung ­bin Ladens wird den Abzug der US- und NATO-­Truppen vom Hindukusch kaum beschleunigen, auch wenn immer wieder der Eindruck erweckt wird, es könnte so sein

Kein Zweifel, der Al-Qaida-Führer stand schon vor dem Terroranschlägen des 11. September 2001 ganz oben auf der Terroristenliste Washingtons. Durch den 11. September 2001 wurde er dann zum Symbol des islamistisch geprägten Terrorismus und zum Hauptgegner im „US-Krieg gegen den Terror“. Auch mit dem Afghanistan-Feldzug ab Oktober 2001 ging es offiziell zuerst und überwiegend gegen Osama bin Laden und al Qaida. Die Taliban und ihr Chef Mullah Omar gerieten nur als deren Helfer ins Visier. Deshalb sollte es keinesweg erstaunen, wenn nun vor allem in den USA immer wieder gefragt wird, ob durch den Tod bin Ladens der Afghanistankrieg nicht schneller beendet oder zumindest die US-Rolle deutlicher reduziert werden könne. Einen solchen Zusammenhang herzustellen, ist fragwürdig.

Der Afghanistankrieg mag aus Sicht der damaligen US-Regierung seit Herbst 2001 zunächst tatsächlich primär gegen internationale Terroristen (al Qaida) und ihre lokalen Partner (die Taliban) geführt worden sein. Die damalige militärische Taktik, die politischen Versäumnisse und die Rhetorik der Amerikaner deuteten darauf hin. Die ersten Jahre nach dem gewaltsamen Sturz der Taliban waren von der Jagd auf al Qaida und die Reste der Taliban bestimmt. Dazu erschienen Allianzen mit den fragwürdigsten Warlords und Milizen keinesfalls suspekt, auch wenn dadurch eine politische Neugestaltung des Landes vernachlässigt wurde. Dies führte mit zeitlicher Verzögerung zum Wiederauferstehen der Taliban und anderer Aufständischer, die – ziemlich grobe – Lösungen für die Probleme im Umfeld einer schwachen, inkompetenten, korrupten und gespaltenen Regierung in Kabul anboten.

Die ab 2005 schrittweise und nachhaltig erfolgende Delegitimierung der Exekutive um Präsident Hamid Karzai und eine daraus resultierende Stärkung der Taliban und anderer Kombattanten führte zu einem Wandel des Krieges – vom gezielten Kampf gegen tatsächliche und vermeintliche Terroristen hin zur Eindämmung eines Aufstandes, der zunehmend Wurzeln in der afghanischen Gesellschaft schlug.

Weder Telefon noch Internet

Das bewirkte einerseits, dass politische Fragen im Krieg wichtiger wurden als militärische, während die internationalen Truppen strategisch in die Defensive gerieten. Andererseits hieß das, dass al Qaida in Afghanistan an Bedeutung verlor: Schon vor einem Jahr gab das US-Militär bekannt, im ganzen Land würden höchstens noch 100 Al-Qaida-Kämpfer operieren. Die internationale Terror-Organisation war deshalb in Afghanistan kaum noch von Relevanz. Zum Kampf um die Loyalität der Bevölkerung zwischen Regierung und Taliban hatte sie nur noch wenig beizutragen.

Es bleibt auch die Frage, welche Rolle Osama bin Laden in den zurückliegenden Jahren innerhalb al Qaidas noch spielte. Die US-Behörden vertreten in Kenntnis be­schlag­nahmter Unterlagen und Festplatten die Auffassung, er sei weiterhin der operative Kopf gewesen. Die dafür vorgetragenen Belege sind freilich alles andere als überzeugend: Bilder von Osama bin Laden, der sich selbst bei einer Fernsehaufzeichnung zusieht, oder Hinweise, er sei für Anschläge auf Züge eingetreten, sind banal und belegen nichts.

Wenn derartige Attentate bisher nicht beschlossen wurden und ihr Ort offenblieb, konnten sie von niemandem operativ vorbereitet worden sein. Auch nicht von bin Laden. Das gilt umso mehr, als er kaum an Planungstreffen potenzieller Täter teilgenommen haben kann – sonst wäre sein Aufenthaltsort früher entdeckt worden. Schließlich verfügte sein Versteck aus Sicherheitsgründen weder über Telefon noch Internetzugang – wie soll man sich da operative Führung vorstellen? Insgesamt muss man also davon ausgehen, dass der Terroristenchef zwar weiter einen symbolischen Part übernehmen konnte, an konkreten Plänen für militärische oder terroristische Angriffe aber höchstens marginal beteiligt war.

Zusammengenommen bedeutet all dies: Der gewaltsame Tod bin Ladens stellt zwar einen großen politischen Erfolg der US-Regierung dar – aber er wird keine Auswirkungen auf künftige Terrorakte in der Welt und auf den Krieg in Afghanistan haben. Selbst bei nur mäßigem propagandistischem Geschick al Qaidas und seines Umfeldes wird sich mittelfristig der erlittene Prestigeverlust durch den Tod des Anführers sogar dadurch kompensieren lassen, dass er zum „Märtyrer“ verklärt wird: Auch ein toter Osama bin Laden kann dem gewaltsamen Dschihad nützlich sein.

Nur marginal beeinflusst

Doch der Afghanistankrieg wird dadurch nur marginal beeinflusst. General Stanley McChrystal, der frühere US-Oberkommandierende am Hindukusch, wies vor einem Jahr zu Recht darauf hin, dass dieser Waffengang weder durch militärische Gewalt noch durch Entwicklungspolitik entschieden werde, sondern eine Auseinandersetzung um die Legitimität der Regierung in den Augen der Afghanen sei. Und dieser strategisch entscheidende Kampf verläuft aus US-Perspektive weiterhin wenig erfolgreich, trotz taktischer militärischer Erfolge.

Gewiss hat Präsident Obama im vergangenen Jahr für die Zeit ab Juni 2011 einen schrittweisen Rückzug angekündigt, der sich hinziehen dürfte, aber ohne großen Prestigeverlust kaum revidiert werden kann. Andere US-Politiker gingen noch weiter. Sie forderten, in Afghanistan den Krieg einfach als „Erfolg“ zu bezeichnen und die Truppen rasch abzuziehen. Hier ist der politisch-symbolische Spielraum der US-Regierung durch den Tod Osama bin Ladens gewachsen. Ob er aber im Sinne eines beschleunigten Truppenabzugs genutzt wird, hängt nicht am Tod einer Person oder auch nur an der künftigen Handlungsfähigkeit al Qaidas, sondern am Verlauf des Afghanistan-Krieges in den nächsten Monaten. Und dabei stehen militärische Teilerfolge einer fortgesetzt negativen politischen Entwicklung gegenüber. Der Tod Osama bin Ladens ändert nichts an der Realität dieses Konflikts, auch nicht an der US-Politik. Aber er wird bei Bedarf seinen politisch argumentativen Gebrauchswert kaum schuldig bleiben.

Jochen Hippler lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden