Kritik üben: Was das Theater von Lessings „Nathan der Weise“ lernen kann
Theater Betrogene Betrüger allerorten: Gegenwartstheater will Aufklärung bieten. Dabei sollte es sich auf eine Tradition emanzipatorischen Denkens besinnen: Religionskritik à la Lessing
„Nathan le Sage“ in einer Inszenierung der Comédie-Française 1997 in Paris
Foto: Pascal Victor/Opale.Photo/Laif
Gotthold Ephraim Lessings vor 250 Jahren uraufgeführter Nathan der Weise ist im Zeitalter eines gespenstischen Comebacks der Religionen in vielen Milieus und bei gleichzeitig rasant anwachsender Kirchenferne unheimlich zeitgemäß. Dazu trägt auch der seltsame Umstand bei, dass ein über Jahrhunderte hinweg verlässliches Kennzeichen aufgeklärten linken Denkens heute allenfalls noch durch Scheu und Ängstlichkeit auffällt: Religionskritik.
Kritik an Priestertrug, an Religion als Opium des Volkes und am falschen frommen Bewusstsein, wie die großen Aufklärer Voltaire und Lessing, Georg Büchner und Heinrich Heine, Karl Marx und Sigmund Freud sie vortrugen, wird heute gerade in Kreisen, die sich als emanzipiert verstehen, kaum noch geü
kaum noch geübt. Anders verhält es sich mit der Kritik an Kirchen und ihrem irdischen Tun. Es genügt, an die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche oder an den Segen der russisch-orthodoxen Kirche für Putins so hasserfüllten wie strohdumm-brutalen Krieg zu erinnern, um die Diskrepanz deutlich zu machen: Kritik an Kirchen ist aus offensichtlichen Gründen angesagt, Kritik an Religion und Religiosität hingegen kaum zu vernehmen. Dabei spricht alles dafür, dass nicht Gott, sondern der Teufel am gewalttätigen Treiben militant Gläubiger (ob islamistische Fundamentalisten oder evangelikale Trump-Fans, orthodoxe Serben oder militante Hindus) seine reine Freude hätte.Gerade deshalb lohnt es sich, an die Lektion des 1729 im Markgraftum Oberlausitz geborenen Lessing zu erinnern, der als Dramatiker, Fabel-Autor und Publizist wirkte. Sie ist so elegant und schlicht wie weitreichend und verbindlich. Dargeboten wird sie dem Sultan Saladin durch den titelgebenden Helden Nathan. Die berühmte Ringparabel, deren Grundgestalt Lessing Boccaccios Decamerone entnahm, macht offenbar, dass Gott nicht offenbar ist. Wäre er (gar im Sinne von Evidenz) offenbar, so könnte es nicht unübersehbar viele Religionen, sondern nur die eine wahre Religion geben. Fromme Gemüter müssen versuchen zu erklären, dass genau dies nicht der Fall ist. Das bringt sie in Schwierigkeiten: Ist Gott ein liberaler Geist, ist er nicht allmächtig. Ist er etwa nicht immer nur lieb, gibt es ihn vielleicht gar nicht – oder gibt es doch viele Götter, hat er seinen Spaß daran, Menschen im Ungewissen leben zu lassen? Je mehr sich dergleichen verunsichernde Fragen aufdrängen, desto verlässlicher ist der von Gott (wenn es ihn gibt) offenbar nahegelegte Schluss, dass Gott nicht offenbar ist.Schwere ÜberzeugungsarbeitEs gehört nun zu den Pointen des klugen Dramas Nathan der Weise, dass Lessing es nicht nur bei dieser erzliberalen und aufgeklärten Lektion über Transzendenz-Fragen belässt, sondern sie in innerweltliche Kontexte einbettet. Nathan ist, als er zu Saladin gebeten wird, „auf Geld gefasst“, doch der will „Wahrheit, Wahrheit, als ob die Wahrheit Münze wäre“. Aus Kredit-Problemen werden Credo-Probleme – et vice versa.Denn ganz ununterscheidbar sind die drei gleichermaßen wahr wie falsch scheinenden Ringe, um die sich der Streit der Brüder entspinnt, dann doch nicht. Nur der eine Ring hat die „Wunderkraft beliebt zu machen; / Vor Gott und Menschen angenehm“. Und nur er, dieser einzige Ring, den man nicht mehr von den anderen nachgemachten Exemplaren unterscheiden kann, birgt die vermeintlich „wahre“ Religion. Herausfinden, welcher es ist, lässt sich aber nicht mehr. Denn: „Jeder liebt sich selber nur / Am meisten? – O so seid ihr alle drei / Betrogene Betrüger.“Dass es sich im kulturellen Rahmen dieser oder jener Religion schon in diesem Leben besser, friedlicher, in jedem Wortsinne reicher leben lässt als in dem der anderen, gilt militant frommen Köpfen gerade nicht als Indiz ihrer Wahrheit. Denn starke Erlösungsreligionen haben kein großes Interesse am guten Leben hier und jetzt; von diesem Leben erlöst zu werden, muss ja attraktiv erscheinen.Überzeugungsarbeit ist daher Schwerstarbeit, mitunter kann sie aber auch ein theatralisches Vergnügen sein, das selbstverliebte und von sich überzeugte Köpfe von wohlfeilen Meinungen befreit und zu neuen Einsichten führt. Lessings grandiosem Drama ist genau dies gelungen.Das heutige Theater versteht sich durchweg als ein Ort der Aufklärung – und das ist auch gut so. Aber dieses Selbstverständnis ist ein wenig zu selbstverständlich. Das Aufklärungstheater der Gegenwart hat bei aller ausgestellten Lust am Neuen und Irritierenden seinem Publikum nur noch selten wirklich Neues und Irritierendes zu bieten. Wundersam wäre es, wenn lauter Rassisten, Frauenfeinde, Ausbeuter, Klimakrisenleugner, Fundamentalisten, Imperialisten, Faschisten und Kriegstreiber ins Theater gingen und es geläutert verließen. Aber dem ist nicht so. Die Theatergängerinnen und Theatergänger sind in aller Regel schon bevor sie das Geschehen auf den Brettern, die die Welt bedeuten, wahrnehmen, Leute ohne Bretter vor dem Kopf. Der Vorwurf, dass sie sich nicht irritieren lassen wollen, ist nicht haltbar. Umgekehrt: Sie irritiert, dass das aufgeklärte Regie-Theater gerade keine tiefgreifende Irritation mehr bietet. Es festigt vielmehr die eh schon vorhandenen mentalen Dispositionen eines wohlmeinenden Publikums.Zu einem Medium dichter, aufklärungsbedürftiger Widersprüche kann das Aufklärungstheater nur dann werden, wenn es seine genuine interne Widersprüchlichkeit nicht verdrängt, sondern ausstellt. Genannt seien nur zwei dieser Widersprüche. Erstens: Das Gegenwartstheater will in aller Regel avantgardistisch sein – und kann genau dies nicht. Seine Grundregeln haben sich nun einmal seit mehr als zweitausend Jahren nicht geändert. Theater ist medientechnisch gesehen Arrièregarde. Es bleibt seit Jahrtausenden dabei: Leibhaftige Menschen bewegen sich schwitzend, redend, schreiend, küssend et cetera auf einer Bühne und tragen Konflikte aus.Zweitens: Das Gegenwartstheater will sensibel sein – und kann eben dies nicht leisten, ohne sich zu verleugnen. In Stücken des Kanons wird nun einmal geliebt, gemordet, intrigiert und geopfert. Die Figuren erleiden Verletzungen und Traumatisierungen. So viele Triggerwarnungen, wie sie von der antiken Iphigenie bis zu Heiner Müllers Quartett angezeigt wären, passen auf keine vierte Wand.Zu wirklich irritierenden Aufklärungsleistungen kann das Gegenwartstheater nur auflaufen, wenn es seine mediale Unzeitgemäßheit und seine interne Widersprüchlichkeit nicht verdrängt, sondern als Produktivkraft begreift.Placeholder authorbio-1
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