Die Sommerreise

Alte Werte Es können nun Ausflüge zu Bill Clinton gebucht werden. Nachdem der ehemalige US-Präsident Ende Juli sein neues Büro in Harlem bezogen hat, bietet ein ...

Es können nun Ausflüge zu Bill Clinton gebucht werden. Nachdem der ehemalige US-Präsident Ende Juli sein neues Büro in Harlem bezogen hat, bietet ein New Yorker Reisebüro unter dem Titel Das Harlem von Bill Clinton einen Spaziergang durch das Viertel an. Touristenattraktion Politiker - so weit ist man in Deutschland noch nicht. Hier müssen die Volksvertreter noch immer selbst auf Reisen gehen, um ihre Bürger zu besichtigen, und sie tun das viel und gerne.

Gerhard Schröder ist darunter der ausdauerndste politische Sommerfrischler: Schon 1986, als Oppositionsführer, begann er mit den Touren durch Niedersachsen, auch als Ministerpräsident in Hannover war er jeden Sommer unterwegs. Als Bundeskanzler hat Gerhard Schröder in diesem Sommer das selbe Ziel wie im vorigen Jahr: Er besucht die neuen Länder. Diesmal führt ihn sein Weg durch Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Auf dem Rückweg schaut er dann noch in Marktredwitz in Oberfranken vorbei. Die Reise steht unter dem Thema EU-Osterweiterung, deshalb sind auch Tagesausflüge nach Polen und Tschechien geplant.

Den Titel als Erfinder der politischen Sommerreise kann jedoch der in Ungnade gefallene ehemalige Kanzleramtschef Bodo Hombach für sich beanspruchen. Als Berater von Johannes Rau im Bundestagswahlkampf schickte er den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen schon im Sommer 1985 auf Reisen.

Seitdem haben Sommerreisen Hochkonjunktur in der deutschen Politik. Angela Merkel will im Spätsommer auf Reisen gehen, Saarlands Ministerpräsident Müller ist gerade unterwegs, Heide Simonis reiste zwei Tage im Juli unter dem Motto »Gesundheitsadresse Schleswig-Holstein« durch den Norden. Und Wolfgang Clement, der voriges Jahr noch einen schmählichen Fußmarsch antreten musste, weil er die 8-Prozent-Wette gegen Jürgen Möllemann verloren hatte, wandert dieses Jahr wieder. Auf seiner Sommertour 2001 läuft er in fünf Tagen von Dortmund ins 111 Kilometer entfernte Neheim, und alle Bürger dürfen mitkommen. Längst ist der peinliche Ursprung für den Fußmarsch vergessen, und durch geschickte PR arbeitet das Bild des sommerreisenden Wanderpräsidenten nun für Clement.

In Niedersachsen, geprägt vom rekordreisenden Kanzler, ist man besonders viel unterwegs: Schröder-Nachfolger Gabriel plant eine Tour, sein Minister für Europa- und Bundesangelegenheiten ist auf »Europa-Sommerreise in Niedersachen« unterwegs, und der Kultusminister Oppermann hat seine Fahrt schon längst hinter sich.

Hessens Landesfürst Roland Koch wiederum hielt es nicht einmal in Europa, er machte gleich einen Trip nach Wisconsin, USA. Dort durfte er dann beim »Germanfest« in Milwaukee eine Rede halten. Thüringens Ministerpräsident Vogel besticht bei so aufgeregtem Reisetrieb mit staatsmännischer Coolness: Statt einem Rudel Journalisten durchs Land voranzuschreiten, lud er sich die Presse einfach in die Ötztaler Alpen ein, zum »Sommerinterview«.

Medienpräsenz muss auf jeden Fall gewährleistet sein bei der Sommerreise, in welcher Art auch immer. Onkel Hermann auf Mallorca, Goethe in Italien, Kohl am Wolfgangssee, all das wird dokumentiert und festgehalten, um der Nachwelt zu beweisen, dass man dort gewesen ist. So sind die Sommerreisen der Politiker weniger ein Besuch in vernachlässigten Provinzen als eine gute Möglichkeit, »in den Regionen aktuellen Fragestellungen nachzugehen«, wie die Pressestelle des Kanzlers glauben machen möchte. Sie sind ein Veranstaltung für Journalisten. Im Sommerloch ist es sogar berichtenswert, wenn der Kanzler auf einem Stadtfest die Hände schüttelt

Die Deutschen genießen nicht den Ruf, die angenehmsten Sommergäste zu sein. Sie verschmutzen spanische Strände, trinken zu viel Sangria, tragen kurze Hosen und wollen immer Bundesliga sehen. Doch sie werden zähneknirschend geduldet, denn Touristen bringen Geld. Auch Schröder wird im Osten nicht unbedingt freundlich empfangen werden, trotz Energie-Cottbus-Schal und Solidarpakt II. Schon im vorigen Jahr begleitete viel Unangenehmes die Stippvisite, eine Agentur berichtete über die Besuche von »Helmut Schröder«, und Angela Merkel schimpfte, für Schröder sei der Osten keine »Herzensangelegenheit«. Doch der Kanzler weiß, wie man verärgerte Einheimische auftauen lässt: Laut Osnabrücker Zeitung will der Kanzler ein milliardenschweres Förderprogramm für die Bauwirtschaft als Gastgeschenk mitbringen.

Für die Zukunft hat sich Schröder jedoch an einem neuen Trend orientiert: Anfang September kann das Volk zu ihm kommen, zum Tag der offenen Tür im Kanzleramt. Von Clinton lernen heißt zu Hause bleiben.

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