Ende Januar erklärte Präsident Chirac auf Anraten des Staatsrats, der höchsten juristischen Instanz der Französischen Republik, den heftig umstrittenen Absatz eines Gesetzes für null und nichtig, das seit Wochen für emotionale, aber auch schonungslose Diskussionen im Land und für Kritik aus dem Ausland gesorgt hatte. Die Regierung kann ihn nun per Dekret ersatzlos streichen. Der fragliche Passus des Gesetzes, das als späte Würdigung der "pieds-noirs", der Algerienfranzosen, aber auch der "Harkis" gedacht war, jener Einheimischen, die im Algerienkrieg zwischen 1954 und 1962 auf Seiten der Franzosen gekämpft haben und mit ihren Nachkommen seither in Frankreich leben, forderte "besonders eine positive Darstellung der französischen Präsenz in Übersee in den Schulprogrammen".
Das Gesetz war am 23. Februar 2005 von der Nationalversammlung verabschiedet worden, ohne dass seinerzeit die linke Opposition an diesem Passus Anstoß genommen hätte. Das spricht nicht gerade für die Sensibilität der Volksvertreter, vielmehr für eine reaktionäre Verklärung zu einer Zeit, in der von der Glorie der "Grande Nation" nicht allzu viel übrig geblieben ist. Doch die algerische Regierung protestierte, und ein zwischen beiden Ländern geplanter Freundschaftsvertrag liegt seither auf Eis. Eine öffentliche, vor allem in den Medien geführte Debatte kam allerdings erst zustande, nachdem Jugendliche schwarz- und nordafrikanischer Herkunft in den Vorstädten revoltiert hatten. Nun forderten Sozialisten und Kommunisten die Streichung des beanstandeten Artikels 4, was die Regierungsmehrheit am 29. November noch ablehnte.
"Nur Gutes" angetan
Bekannte Sportler farbiger Abstammung forderten zur gleichen Zeit die jungen Franzosen in der "Banlieue" auf, sich in die Wählerlisten einzutragen, und der von den französischen Antillen stammende Fußballer Thuram - ein Idol in den Ghettos der "Cités" und selbst dort aufgewachsen - kritisierte Innenminister Nicolas Sarkozy öffentlich für seine Äußerung vom "Gesindel" ("racaille"), mit dem man es in den Vorstädten zu tun habe. Ebenfalls Ende November konstituierte sich der "Repräsentative Rat der Vereinigungen der Schwarzen" und Historiker meldeten sich mit dem Argument zu Wort, Geschichtsschreibung könne nicht per Gesetz dekretiert werden, und forderten gleich auch die Abschaffung aller übrigen einschlägigen Gesetze. Dafür wurden sie postwendend von der einst von Jean-Paul Sartre gegründeten Zeitschrift Les Temps modernes gerügt, die daran erinnerte, darunter fiele dann auch das Gesetz, das die Leugnung der Judenvernichtung unter Strafe stellt.
"Republikanisches Imperium"
Schließlich musste Innenminister Sarkozy Ende 2005 während einer Dienstreise in die überseeischen Départements auf einen Besuch der Insel Martinique verzichten, weil sich dort der greise Dichter Aimé Césaire, Mitbegründer der "Négritude", langjähriger Bürgermeister von Fort-de-France, Abgeordneter in Paris und in seiner Heimat eine Ikone, geweigert hatte, ihn zu empfangen. Ende Januar nun ist in Paris der bestechend nüchterne Film Trahison ("Verrat") des Regisseurs Philippe Faucon angelaufen, der eine Episode gegen Ende des Algerienkriegs im Jahr 1960 schildert und dem man möglichst viele Zuschauer wünschen möchte, obgleich es sich um keine jener Megaproduktionen handelt, die in den Kinos der großen Boulevards gezeigt werden. Es ist, als sei seit dem vergangenen Herbst eine Tür aufgestoßen worden.
In den zurückliegenden Jahrzehnten wurde die koloniale Vergangenheit, etwa im Film, häufig verklärt und voll nostalgischer Gefühle dargestellt. Schon im 19. Jahrhundert hatten die Befürworter des Kolonialismus auf seinem Höhepunkt - also zwischen 1880 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs - gern seine "zivilisatorische Mission" betont, die ihn in der Tat vom britischen Weltreich unterscheidet, und ebenso gern über Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung hinweg gesehen. Als Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg noch die Völkerbundmandate für Syrien und den Libanon erhalten hatte, erreichte das "empire français" seine größte Ausdehnung: Zwölf Millionen Quadratkilometer mit insgesamt 60 Millionen Einwohnern auf praktisch allen Kontinenten, vorzugsweise aber in Indochina, Nord-, Zentral- und Westafrika. Eine Ausnahme in diesem "republikanischen Imperium" bildete Algerien, das ab 1830 - vergleichbar der Eroberung des "menschenleeren" Westens der USA - unterworfen wurde. Die drei ans Mittelmeer stoßenden Départements Alger, Constantine und Oran gehörten zum französischen Mutterland. In Algerien ließ sich die mit Abstand größte Zahl französischer (und europäischer) Siedler nieder - 2,7 Millionen waren es im Jahr 1954.
Die französische Staatsbürgerschaft wurde den Untertanen in den Kolonien nur äußerst spärlich verliehen und auch nie an ganze Bevölkerungsgruppen, sieht man einmal von den 1870 per Gesetz en bloc naturalisierten 35.000 algerischen Juden ab. Die Sklaverei - ein wichtiges Thema in der derzeitigen Debatte, wenn man weiß, dass der Philosoph Alain Finkielkraut behauptet hat, Frankreich habe den Afrikanern "nur Gutes" angetan - wurde dank der Revolution von 1848 abgeschafft, nachdem Napoleon I. sie 1802 wieder eingeführt hatte.
Nie über Verdun gesprochen
Widerstand gegen den Kolonialismus gab es zu Ende des 19. Jahrhunderts aus dem nationalistischen Milieu, das verlangte, Frankreich solle sich auf die Rückgewinnung der 1871 verlorenen Provinzen Elsaß und Lothringen konzentrieren. Die moralische und intellektuelle Kritik der Sklaverei und des Kolonialismus war indes fast ausschließlich ein Monopol antiklerikaler Kreise und der Linken. Sie beginnt bei Montesquieu und Rousseau und wurde später erneuert von Schriftstellern und Theoretikern wie Anatole France, André Gide, den Surrealisten, Frantz Fanon und schließlich Jean-Paul Sartre.
Wenige Tage nach der Streichung des ominösen Artikels 4 erklärte nun der französische Präsident den 10. Mai zum Tag der nationalen Erinnerung an die Sklaverei. Ein Zeichen wenigstens. Und vielleicht wird ja Nicolas Sarkozy bei seiner nächsten Dienstreise doch von Aimé Césaire empfangen - wenn der alte Herr dann noch dazu in der Lage sein sollte. Die Debatte wird damit kaum beendet sein. Mein Nachbar am Tresen im Bistro erzählt, dass sein älterer Bruder als junger Wehrpflichtiger in den Algerienkrieg geschickt wurde und nie über seine Erlebnisse dort gesprochen habe. Das erinnere ihn an seinen Großvater, der über seine zwei Jahre an der Front bei Verdun im Ersten Weltkrieg auch Zeit seines Lebens nicht habe sprechen können.
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