Seit dem 19. Oktober 2006 gibt es eine Debatte um die Perspektiven der Kulturpolitik. Damals beschied das Bundesverfassungsgericht eine Klage des Landes Berlin auf Sanierungshilfen des Bundes für seinen verschuldeten Haushalt abschlägig. Zur Begründung verwies das Gericht unter anderem auf die - im Vergleich zu anderen Städten wie Hamburg - überproportional hohen Ausgaben für Kultur und Wissenschaft. Seitdem diskutieren Politiker und Experten über die dadurch entstandene Lage. Im Freitag 44/2006 veröffentlichte der Berliner Publizist und Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm Überlegungen zu einer Neuausrichtung der Kulturpolitik. Ihm folgt nun eine Stimme aus Sachsen.
Kulturpolitik, so beteuern deren Protagonisten in den Parteien, ermögliche eine lebendige und vielfältige kulturelle Betätigung. Zu dem Zweck schaffe Kulturpolitik geeignete Rahmenbedingungen, das heißt, eine Infrastruktur aus öffentlichen Einrichtungen, freien Projekten und privaten Initiativen, die ein vielfältiges kulturelles Angebot für alle Bürgerinnen und Bürger bereit halte, damit diese ihren eigenen Interessen nachgehen können. Die Rahmenbedingungen für kulturelle und künstlerische Aktivitäten sollten so gestaltet sein, dass sie freie Kulturzonen eröffnen und offene Gelegenheiten bieten, in denen Kreativität entfaltet werden und Unvorhergesehenes passieren kann. Die kulturelle Vielfalt und Differenz, wie sie sich in unterschiedlichen Auffassungen vom Guten Leben äußert, zu erhalten und zu bereichern, sei ein erstrangiges Anliegen der Kulturpolitik. Schließlich sei eine demokratische politische Kultur auf eine kulturelle Infrastruktur angewiesen, um die moralischen und geistigen Ressourcen auszubilden, die das Selbstverständnis einer Demokratie prägen.
Ein Blick auf die kulturpolitische Wirklichkeit hierzulande dementiert derartige Beteuerungen. Die Lücken in der kulturellen Infrastruktur sind nicht mehr zu übersehen, und die Folgen für die moralischen und geistigen Ressourcen des demokratischen Gemeinwesens sind dementsprechend gravierend. Aufgrund knapper öffentlicher Finanzen ist die Kulturpolitik unter Legitimationsdruck geraten. Deren Akteure reagieren darauf im Geiste des vorherrschenden marktanalogen Denkens mit einem Umbau der Kulturpolitik zum Kulturmanagement. Statt der Angebotsorientierung dominiert nun die Nachfrageorientierung im Kulturbereich. Aus dieser Perspektive gilt das, was sich nicht rechnet, als verzichtbar. An die Stelle einer langfristigen Kulturpolitik tritt ein Kulturmanagement, das den kurzfristigen Nutzeffekt im Auge hat und bestrebt ist, aus den finanziellen Zuschüssen maximalen Gewinn zu schlagen. Kulturpolitisch gefördert werden vorrangig Projektvorhaben, die Erfolg beim (zahlungskräftigen) Publikum versprechen. Dagegen geht die institutionelle Förderung, deren Effekte weniger spektakulär, dafür aber nachhaltig sind, immer weiter zurück. Die Veranstaltung so genannter Events verdrängt eine um Kontinuität und Grundversorgung der Bevölkerung bemühte Kulturpolitik. Befürworter der Eventkultur halten denn auch eine flächendeckende kulturelle Versorgung bis in die entlegensten Gebiete auf dem Lande für entbehrlich. Da die Menschen heutzutage flexibel und hoch mobil seien, so argumentieren sie, machten sie sich "zu den Highlights ihrer Wahl" selbst auf den Weg.
Mit der Festivalisierung der Kultur infolge der Umstellung von der Angebots- auf die Nachfrageorientierung geht nun gleichzeitig eine Konzentration kultureller Angebote auf die urbanen Kulturräume einher. Die so genannte Förderung von "Leuchttürmen" - prestigeträchtig und standortrelevant - bewirkt auf der anderen Seite einen Rückzug aus der Fläche. So konstatiert beispielsweise der Sächsische Kinder- und Jugendbericht erhebliche Lücken in der soziokulturellen Infrastruktur des Landes. Die Autoren sprechen von "toten Dörfern". Das sind Orte ohne Arzt, Kindergarten, Jugendclub, Kneipe und Einkaufsmöglichkeit. Von der Schule, auf deren Betrieb aus Kostengründen meist zuerst verzichtet wird, ganz zu schweigen. Zur "ländlichen Öde" sei das "Weggehen" die "einzig zukunftsträchtige Alternative", heißt es in dem Bericht. Weil infolge der Abwanderung junger Menschen immer weniger Gleichaltrige da sind, "mit denen jugendkulturelle Stile" und "überlokale Gesellungsformen" ausprobiert und gelebt werden können, werde Vereinzelung zum Schicksal für die Dagebliebenen. Der Befund dürfte nicht bloß für den Freistaat Sachsen zutreffen, der sich rühmt, ein Kulturland zu sein.
Den Burgen städtischer Hochkultur stehen mithin ländliche Regionen gegenüber, in denen sich eine Alltagskultur ausbreitet, die im Spiegel einmal als "Dorffaschismus" charakterisiert worden ist. In die so genannten "entwerteten Territorien" dringen nämlich rechtsextreme Gruppierungen vor, die dort soziale und kulturelle Aufgaben wahrnehmen. Nicht die staatlich besoldete Kulturpolitik, sondern mehr oder weniger straff organisierte Rechtsextreme sorgen hier für kulturelles Leben mit dem Ziel, eine - wenn auch vorerst örtlich begrenzte - kulturelle Gegenmacht zu etablieren. Die Übernahme der Kulturhoheit dient in Wirklichkeit jedoch der Vorbereitung auf den politischen Kampf. Aufgrund von beschleunigtem Wegzug und Verdrängung aus diesen Gebieten können "homogene Räume" entstehen, "die von Andersdenkenden, -lebenden und -aussehenden gesäubert sind", wie der Soziologe Roland Roth feststellt. Hier agieren Rechtsextreme weitgehend unbehelligt von staatlicher Kontrolle.
Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass das, was die Soziologie etwas euphemistisch soziale Entmischung nennt, nur auf dem Lande stattfindet. Diese entwerteten Territorien gibt es auch inmitten städtischer Ballungsräume. Denn die Strahlkraft kultureller Leuchttürme ist nun einmal arg begrenzt, sowohl in räumlicher als auch in sozialer Hinsicht. Sie erreicht in der Regel nur die sozial besser Gestellten. Umso wichtiger ist eine Kulturpolitik, die eine nachhaltige Infrastrukturpolitik betreibt, um der zivilisatorisch produzierten Barbarei den Nährboden zu entziehen.
Der Verfasser ist Politikwissenschaftler und parlamentarisch-wissenschaftlicher Berater der PDS-Fraktion im Sächsischen Landtag.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.