Das doppelte Monstrum

Bergung Annett Gröschner und Arwed Messmer zeigen, wie die gesamten 163,8 Kilometer der Mauer um Westberlin aussahen
Ausgabe 25/2016

Eine der wichtigsten literarischen Strömungen unserer Zeit ist die Arbeit mit Archivmaterial, mit Fundstücken, mit O-Tönen, das antigenialische Programm einer Bergung von Lebenspartikeln, wie Walter Kempowski es vorgemacht hat. Als Swetlana Alexijewitsch vergangenes Jahr den Nobelpreis bekommen hat, meldeten sich schnell Gattungspuristen zu Wort, die meinten, sie sei keine wirkliche Autorin, da sie „nur“ Interviewmaterial sammle und zusammenstelle. Wer ihre aufwühlenden Bücher liest, wird diese Einschätzung absurd finden. Ähnlich absurd wie die Diskussion, die in den 90ern um Kempowskis Echolot geführt wurde, zum Beispiel im Literarischen Quartett. Marcel Reich-Ranicki fühlte sich damals nicht zuständig, das Werk sei ein mit viel Fleiß zusammengestelltes Chaos, aber keine Literatur.

Annett Gröschner arbeitet seit Jahren gegen so einen beschränkten Literaturbegriff an. Immer wieder hat sie konzeptuell mit recherchiertem Material gearbeitet und dabei wissenschaftliche Akribie an den Tag gelegt, ohne es an einem Sinn fürs Pittoreske und Anekdotische fehlen zu lassen. Dahinter stecke, sagt Gröschner, auch eine Abneigung, nach einem Leben in einem ideologisierten Staat selbst neue Ideologien zu produzieren. Der Leser soll sich sein Bild selbst machen.

Der Doppelband Macht/Power ist ein dokumentarisches Monstrum, das ein reales Monstrum porträtiert: die Berliner Mauer, die für die längste Zeit ihrer Existenz alles andere war als eine wirkliche Mauer. Die Fotos aus den späten 60ern erinnern mich an das, was ich auf Zypern gesehen habe, wo man am Strand zwischen türkischem und griechischem Teil der Insel von einem Grenzzaun aufgehalten wird, der aus verrostetem Stacheldraht, Blech, Dachpappe und Schrott besteht, von müden Wellen umspült. Auch in Berlin hatten die Russen ursprünglich nur Stacheldraht genehmigt. Mit einer massiven, keineswegs durchgehenden Absperrung, wurde erst später begonnen. Große Teile der Grenze waren von scharfen Wachhunden mit Namen wie Arko von der Charlottenhöh bewacht.

Charmante Blindfotos

Spätgeborene wie ich verstehen unter Mauer die heute ikonische „Grenzmauer 75“, die ab Anfang 1976 gebaut wurde und die man bei der S-Bahnfahrt durchs Niemandsland zwischen den S-Bahnhöfen Pankow und Schönhauser Allee besichtigte. Ich werde nie vergessen, wie selbstverständlich für mich, der ich Jahrgang 1970 bin, als Kind dieser Anblick war. Es ist eines der größten Rätsel, das mir die Mauer heute aufgibt. Der Gnade der späten Geburt habe ich es zu verdanken, dass ich noch zu jung war, um mich eingesperrt gefühlt zu haben. Dass ich das war und in welcher Weise, macht dieses Buch schmerzhaft bewusst. Es ist das Ergebnis eines Zufallsfunds. Annett Gröschner und der Fotograf Arwed Messmer entdeckten bei der Suche nach Bildmaterial zu einem Mauerabschnitt im Prenzlauer Berg im Militärischen Zwischenarchiv in Potsdam eine Kiste mit Negativfilmen. Die Bilder entpuppten sich als vollständige Dokumentation der 163,8 Kilometer Grenzanlagen um Westberlin, fotografiert von Grenzsoldaten, vermutlich im Jahr 1966. Höchstwahrscheinlich dienten sie dem pioniertechnischen Ausbau, man wollte Schwachstellen der Anlagen erkennen.

Man sieht eine verwundete Landschaft, aber auch ein verschwundenes, vom Krieg versehrtes, industrielles Berlin, wobei sich Ost und West an ihren Rändern noch nicht so stark unterschieden wie später. Faszinierend sind auch die Bilder, die zwischen die Kapitel eingestreut sind. Im Zeitalter der Filmfotografie machte man ja nach dem Einlegen eines neuen Films immer ein paar „Blindfotos“, die nun unfreiwillige Zeugen mit dem Charme von Lomografien sind. Manchmal gerät ein uniformierter Arm, ein Soldatenstiefel oder ein unscharfes Gesicht mit Käppi ins Bild, man beobachtet die Beobachter.

Im Textteil gibt es eine Auflistung von Protokollauszügen zu „Vorkommnissen“ in einem Abschnitt der innerstädtischen Grenze. Jemand wollte Muttererde für seinen Blumenkasten holen. Jemand wollte Fliederblüten schneiden. „Vor allem wollte er mal sehen, wie es drüben aussieht, wozu er durch oftmaliges Hören des SFB bewogen wurde.“ Andere flohen vor ihrer zerrütteten Ehe oder waren lebensmüde und wollten sich erschießen lassen. Oft kamen die „Grenzverletzer“ direkt aus der Kneipe, der Scharfen Ecke oder dem Sportlerheim, einer hatte einen Dietrich dabei. In zahlreichen Fluchtprotokollen mit militärischen Lageskizzen bekommt man ein Bild davon, wie gnadenlos hier auf „Grenzverletzer“ geschossen wurde. Was verbirgt sich hinter „ideologischer Diversion unter der Maske der Menschlichkeit“? Was heißt es, dass jemand „ein Freund-Feind-Problem“ hat? „Er trat aus Langeweile im Grenzdienst Figuren in den Schnee.“ „Er verrichtete seine große Notdurft auf dem Dach.“ (Man hatte für die Soldaten zunächst keine Toiletten vorgesehen, es kam vor, dass sie in Tüten schissen und diese nach Westberlin warfen.)

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man meinen, die Mauer sei selbst ein Stück Konzeptkunst gewesen. Erstaunlich oft und manchmal mit Erfolg haben sich Frauen entblößt und angeboten, oder Grenzer wurden mit pornografischem Material und der Aussicht auf besseres Essen gelockt. Der Osten blieb stumm und protokollierte fleißig: „Ein Mann ruft vom Balkon: ‚Na, Meister?‘ Dann zieht er sich ins Haus zurück.“ Solche Zitate sind den Bildern zugeordnet, auf denen man sonst kaum Menschen sieht. Das Buch enthält zudem Fotoserien der Wachtürme, die aussehen wie Jagdsitze, von Fluchtleitern (es ist also wohl kein Mythos, dass Kleingärtner im Grenzgebiet ihre Leitern nachts anschließen mussten), von Porträts belobigter Grenzsoldaten, von Fluchttunneln. Die Grenze wurde gegen Ende immer teurer, zuletzt überlegte man, die durchgehende Beleuchtung einzusparen und erwog ernsthaft, den Beton durch Hecken zu ersetzen. Tendenziell wäre vielleicht eines Tages der gesamte von den Menschen erarbeitete wirtschaftliche Gewinn in den Ausbau der Grenzen geflossen, die sie selbst am Verlassen dieses Landes hindern sollten.

Info

Inventarisierung der Macht. Die Berliner Mauer aus anderer Sicht Annett Gröschner, Arwed Messmer (Hg.) Hatje Cantz 2016, 2 Bde., 1.328 S., 98 €

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