In den Gemeinderäumen bietet die Kirche Kindersingen an. Musikschulen sind für uns zu teuer, und die Christen arbeiten wie die Islamisten, sie ködern unsere Kinder mit sozialen Leistungen oder Gratis-Internet und versuchen sie auf diese Art dauerhaft zu binden.
Die Kinder bekommen auf, sich von den Eltern langsam Bibelgeschichten vorlesen zu lassen, "Maria halt durch, du trägst das Jesuskind", singen sie. Die Gemeinderäume sind frisch renoviert und ohne besonderen Charme, das einzige interessante Detail sind die Rollo-Bänder, wie sie auch meine Tante Ines in Köpenick hatte. Wie sich die Bänder zu einer Schnecke aufrollten und wie die Rollos herunterratterten, wenn man das Band surren ließ, das war neben einem grünen, sagogefüllten Stofffrosch die Attraktion in ihrer Wohnung. Bis auf diese Rollo-Schnecken, die von früher übrig geblieben sind, sieht nun alles neu und lebensfroh aus. Dabei müsste doch Kirche ein bisschen Angst machen, um zu funktionieren.
Unsere Gemeinderäume in der Samariterstraße, wo ich als Kind wohnte, waren ein geheimnisvolles Reich im Hinterhofparterre, es war immer dunkel und bei jedem Schritt machte man ein knarrendes Geräusch. Durch eine Hintertür des Kindergartens betraten wir sie einmal in der Woche zur Musikstunde. Rotbraunes Linoleum, Kerzen mit Messingständern, Bilder von Bibelszenen, die von afrikanischen Künstlern gezeichnet waren, weshalb Jesus seltsam flächig aussah und riesige Mandelaugen hatte. Frau Steinberg spielte den Flohwalzer, und wir tanzten um einen Haufen bunter Bilder, von denen man sich bei jeder Unterbrechung der Musik eins nehmen durfte.
Hier, im Prenzlauer Berg, ist es hell und sonnig. Die Spiele in den Regalen kenne ich fast alle nicht. Nur ganz unten liegt "Chance oder Logik", ein Spiel aus der DDR, an das ich mich noch erinnere, weil ich es damals auch besessen habe. Wie ist dieses Spiel hier gelandet? Auf dem Klavier liegt Das Wort läuft, die alte Kinderbibel, auch aus der DDR. Ein Stapel davon lag in jeder kirchlichen Einrichtung, ich habe es nie aufgeschlagen, aber mir wird ganz warm ums Herz. "Oh, Sie haben ja Das Wort läuft", sage ich zum Musikonkel. "Das brauche ich als Stütze für die Noten", sagt er.
Als ich Kind war, hatte ich hatte nie Lust, andere Kinder kennen zu lernen, sie waren laut, versaut und müffelten. Sogar in der Kirche, obwohl wir als Christen doch eigentlich gute Menschen waren. Aber es gab auch laute und müffelnde Christen, es gab sogar einen Jungen, dessen Gesicht von einer Brandnarbe entstellt war, und wir durften es nicht gruslig finden, aus Gründen der Nächstenliebe.
In der Schule waren wir alle immer möglichst fies zueinander, Mädchen und Jungen trennte ein tiefer Graben. "Ihr seid alle Engel", sagten sie zu uns, "Engel mit B". An Wandertagen legte man der vor einem Gehenden Müll in die Kapuze des Anoraks und freute sich, wenn sie es nicht merkte. Man schlich sich von hinten an und drückte einem anderen die Knie in die Kniekehlen. Man tippte jemanden rechts an und guckte von links. Es gab keinen friedlichen Moment. Wenn die anderen nicht angriffen, sondern sich seltsam ruhig verhielten, hieß das, dass man in Gefahr schwebte, weil sie etwas besonders fieses ausgeheckt hatten. Manchmal bildeten sie dann eine Gasse, und man wurde, wenn man durchmusste, von beiden Seiten hin und hergeschubst.
Man musste ständig auf der Hut sein, in keine Falle zu laufen und zum Gespött der anderen zu werden. Man sagte "Guck mal da oben." Und wenn der andere guckte: "Alle Affen kieken hin." Wenn jemand einen offenen Hosenstall hatte, sagte man es ihm nicht, sondern fing an zu zählen: "1,2,3..." bis er es merkte. "17 Kühe sind rausgekommen!" Man machte den Mädchen einen so festen Knoten in den Jackenärmel, dass sie ihn nicht mehr aufbekamen, man streute ihnen zusammengemischtes Hexengewürz auf die Stullen. Man zog dem Kleinsten immer wieder die Mütze über die Augen und sagte "Berlin ist duster". Es hörte nie auf, Spaß zu machen. Man stieß jemandem von hinten so gegen die Ferse, dass er über sein anderes Bein stolperte. Einmal habe ich Grit Steinbach ein Bein gestellt, es war keine böse Absicht, sondern einfach nur ein Gag, der gemacht werden musste. Sie legte sich zwischen den Bankreihen langlegte und ihre Milchtüte schleuderte gegen die Wand. Sie heulte, und es tat mir leid. Manchmal, sehr selten, kam es vor, dass ein Mädchen etwas Nettes zu einem sagte, zum Beispiel "Du bist lieb." Aber dem fügte sie sofort hinzu: "In Klammern Denkste."
Ganz anders ist es hier beim Kindersingen. Die Kinder sind alle lieb zueinander, sie lächeln und Neuankömmlinge werden freudig begrüßt. Alle klatschen im Takt und reichensich die Hände, wenn es im Lied heißt "Sag allen Guten Tag." Wir hätten die Hand hingehalten und dem anderen eine Nase gedreht, wenn er sie hätte schütteln wollen. Hier gibt es keine Hinterlist. Es sind auch einige Mütter da, die mit ihren fünfjährigen Söhnen poussieren wie mit Geliebten, man weiß gar nicht, wer sich mehr über die Lieder freut, die Mütter oder ihre Söhne. Ein Kind ist adretter gekleidet als das andere. Wie friedlich das alles wirkt, wie schön, aber irgendetwas fehlt. Die Mädchen könnten alle Rauschgoldengel sein, keine schielt oder hat Segelohren, nicht einmal X-Beine. Wo sind denn all die Behinderten, die man früher auf den Straßen sah? "Lasset uns singen, singen steckt an ...", singen wir. Es sind Lieder, die die Ex-Frau des Musikonkels komponiert hat. Wenigstens ein Hinweis darauf, dass dies hier keine Sekte ist. Warum hat sie ihn verlassen? Hat er ihr die Zunge rausgestreckt?
Während der Musikonkel Süßigkeiten für die Neuen holt, sollen wir bis 30 zählen. Bei uns hätte, wenn die Tante den Raum für eine Minute verlassen hätte, bei ihrer Rückkehr kein Stein mehr auf dem anderen gestanden. Aber hier zählen die Kinder tatsächlich artig bis 30, als sei das ein großes Vergnügen, sie würden bestimmt auch bis 300 zählen. Es ist wundervoll, wie die moderne Erziehung zum friedlichen Miteinander gefruchtet hat, aber irgend etwas fehlt.
Im Flur stehen die Schuhe der Kinder, niemand hat heimlich die Schnürsenkel zusammengebunden, auch die Jacken sind nicht umgekrempelt worden. Wir ziehen uns gemeinsam an. Die Großen helfen den Kleineren in die Schuhe. Alle sind in der vergangenen Stunde wieder ein bisschen perfekter geworden, die Mütter können zufrieden sein, ihr Projekt Traumkind ist auf einem guten Weg. Aber etwas habe ich eben doch vermisst.
Solange ich lebe, sage ich mir, ist das Böse auf der Welt noch nicht ausgestorben. Ich brauche nur einen Streich zu spielen, und die Gemeinheit, die in mir wohnt, wird weitervererbt. Vielleicht an das Kind, das sich hopsend an der Hand seiner Mutter in Richtung Gethsemane-Kirche bewegt und jetzt einen Apfelgriepsch in der Kapuze hat. Kleiner Engel, trage die Botschaft weiter, damit die Saat aufgehe und die Welt lebenswert bleibt.
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