Lenin war am listigsten

Leseland DDR Der Schriftsteller Jochen Schmidt denkt über die Bücher nach, die ihn in jungen Jahren geprägt haben

Manchmal werde ich gefragt, ob ich ein DDR-Autor bin, obwohl ich zur Wende gerade 19 war und bis dahin ausschließlich und zudem noch äußerst unwillig Aufsätze geschrieben habe. Ein mir innewohnender Widerspruchsgeist drängt mich aber, die Frage zu bejahen – wie Thomas Brasch noch in den 80ern im SFB. Ich wäre dann ja einer der letzten DDR-Autoren, und irgendwann könnte es heißen: „Mit ihm stirbt eine Epoche.“ Aber was ist DDR-Literatur? Es ist ja schon unmöglich zu sagen, was Literatur ist. Viele wichtige Texte durften in der DDR ja nicht erscheinen; sie nicht mitzuzählen, hieße, der Zensur im nachhinein zu folgen. Und war man mit West-Visum und Häuschen am See noch ein DDR-Autor? Oder vielleicht gerade dann? Die Diskussion ist wahrscheinlich vollkommen sinnlos und unproduktiv.

Als Kind hat man seine Sympathien noch nicht ideologisch verteilt. Am prägendsten waren Kinderbücher. Fernsehen war für uns limitiert, aber Platten durften wir hören, weil das „die Phantasie anregt“. Sarah Kirsch Die betrunkene Sonne, wie bedeutend die Autorin war, ahnte man als Kind nicht, die Geschichte war einfach schön. Wie Herr Bell das Telefon erfand, habe ich x-mal gehört und erst vor kurzem erfahren, dass es von Thomas Brasch geschrieben ist. Er war als junger Autor in Ungnade gefallen und hatte Kinder-Hörspiele machen müssen, ein Glück für uns! Bei Gesprächen über Kinderbücher macht man heute die gleiche Erfahrung wie bei DEFA-Filmen: natürlich haben wir alles von Astrid Lindgren und Otfried Preußler gelesen, aber die wenigsten West-Bekannten haben von Elizabeth Shaw oder Benno Pludra gehört. Wie kann man nur ohne Bettina bummelt und Der kleine Angsthase aufwachsen?

Bootsmann auf der Scholle, wie der kleine Hund aufs Meer abdriftet, das ging mir nahe. Dass er ausgerechnet von einem sowjetischen Frachter gerettet wird, kommt mir erst heute seltsam vor, hat es mich politisch beeinflusst? Man darf nicht immer alles von heute aus beurteilen. Blättert man seine Schulbücher durch, fallen einem natürlich sofort die kuriosen Dinge auf: „In einem Ferienlager erhält eine Pioniergruppe den Auftrag, 25 Prozent ihrer Mitglieder für den Ordnungsdienst einzuteilen. Da ruft Klaus: ‚Das geht doch gar nicht! Wir sind ja nur 24 Pioniere!‘ Was sagst du dazu?‘„ So was hat man damals gekonnt ignoriert. Oder in Unsere Fibel, dem ersten Lesebuch, mit den wundervollen Zeichnungen von Werner Klemke, da winken die Menschen am 1. Mai den Genossen und Freunden aus den anderen Ländern auf der Tribüne: „Groß ist die Freude, wenn diese auch winken und lachen.“ Gegen so etwas gab es das Elternhaus als Gegengewicht. Was heute in Kindergärten, viel subtiler, an Product-Placement passiert, finde ich bedenklicher.

Insider-Informationen

Im Lesebuch standen Anekdoten über Partisanen, Matrossow, der die Bunker-Schießscharte mit seinem Körper versperrt, damit die anderen vorbeikönnen. Oder wie August Bebel die preußischen Gendarmen austrickste, die ihm seinen Bücherkoffer trugen, weil sie dachten, es sei eine Bombe drin. Am listigsten war natürlich Lenin, der im Gefängnis mit Geheimtinte schrieb und ein Tintenfass aus Brot formte und runterschluckte, wenn die Wärter kamen. Ein blinder Arbeiter, der in Paris seine Büste betastet und mit feuchten Augen sagt: „Jetzt habe ich Lenin gesehen.“ Eigentlich waren es klassische Superhelden-Geschichten. Lenin musste sich ja auch oft verkleiden, und hat, wie Old Shatterhand, mehr oder weniger ohne Frau gelebt.

Der Bruder einer Freundin brach in der Kinderbibliothek ein und klaute ihr einen Rucksack voll Hermann Kant, sie hatte aber den anderen Kant bestellt. Das war sicher das einzige Mal in der Geschichte, dass irgendwo ein Hermann Kant geklaut wurde. Bei Pflichtlektüre wie der Aula sagte meine Mutter immer: „Das ist keine Weltliteratur!“ Ich hatte also eine Entschuldigung, mich nicht durch Wie der Stahl gehärtet wurde zu kämpfen. Kortschagin, der der Meinung ist, ein Revolutionär dürfe sich nicht verlieben. Ihre Weltliteratur hütete meine Mutter in einem verglasten Schrank: Jane Austen und die Forsyte-Saga. Das würde ich eines Tages alles lesen müssen!

Irgendwann entdeckte ich zum Glück, dass es auch Bücher gab, die meine Eltern nicht hatten. Unser Pfarrer hielt bei der Konfirmandenstunde manchmal eines in die Höhe, ohne große Hoffnungen auf unsere Reformierbarkeit. Er streute eher symbolisch seine Saat ins Leere. Bei unserer Konfirmandenfahrt hatte er im Zug die Runde gemacht und uns unter die Buchdeckel geguckt, besonders spöttisch kommentierte er ein Star-Wars-Taschenbuch aus dem Westen, er wusste ja nicht, dass wir darin nur das Bild der Prinzessin Leia studierten, weil man unter ihrer Bluse mit etwas Phantasie ganz deutlich eine Brustwarze durchschimmern sah. Er las uns abends Bobrowski vor und setzte sich mit dem Buch bis Mitternacht vor die Tür zum Mädchenzimmer. So sammelte man Wissen über die „eigentliche“ Literatur, von der man in der Schule wenig hörte. Damit sich bei mir ein Interesse an den dort gebotenen sozialistischen Kuriositäten entwickeln konnte, musste der Staat erst untergehen.

Mit Insider-Informationen, die die Runde machten, war man seinen Lehrern überlegen. Plenzdorf, das sollte wirklich gut sein, war aber schwer zu bekommen. In Horns Ende kam Nazi-Schuld in der DDR zur Sprache, halb verboten, also lesen! Der Autor nannte sich „Chronist“, das klang angenehm nüchtern. Neue Herrlichkeit von Günter de Bruyn, mit schwarzem Einband. Ein exotischer Name, wenn so einer über die DDR schrieb, vielleicht traute der sich mehr als andere? Das Buch war wegen Kritik an den Altersheimen wieder eingestampft worden, aber unser Pfarrer hatte ein Exemplar vom Autor ergattert. Sarah Kirsch war in den Westen abgehauen, das machte es reizvoll, sie zu lesen. Es war mir aber ein bisschen peinlich, in der S-Bahn mit Gedichten gesehen zu werden. Im Sommerurlaub hing auf dem Dorf im Marmeladen-Schrank immer ein Gedicht von ihr: „Liebe Ameise, bitte unternimm keine Reise in unseren Schrank, wir wüßten keinen Dank, wir müßten Pulver streuen, du würdest es bereuen.“ Ein nützlicher Text, und Generationen lernten ihn ganz nebenbei auswendig. Was will ein Autor mehr?

Heiner Müller als Munition

Sommerstück von Christa Wolf, das war wahrscheinlich DDR-kritisch gemeint, ich las es als Idylle. So eine Kate in Mecklenburg hätte ich mir auch gewünscht, und Künstler-Freunde, die einen dann dort besuchen. Mit 17 ist das noch eine Perspektive. Ich hatte schon erlebt, was man als Schriftsteller für einen Status haben konnte. Eine Signierstunde von Christoph Hein, nachdem der Tangospieler mit Jahren Verspätung erscheinen durfte. Vor dem „Internationalen Buch“ eine lange Schlange die Treppe runter und unten bis zur Ecke. Das musste doch ein schönes Leben sein? Man ahnte ja nichts von Buchmessen, Vertreterversammlungen und Vorschussverhandlungen, Schreiben war eine Erkenntnisform und kein Beruf. Im Grunde musste man in meinen Augen als Autor gar nichts veröffentlichen, das war nebensächlich, es ging primär darum, auf eine überlegene Art die Welt zu verstehen. So wie Heiner Müller, der irgendwann bei uns Mode wurde.

Die Texte kannten wir aus Theater-Programmheften, bis bei Reclam der Material-Band erschien, aus dem man sich die besten Sätze raussuchte, um die Lehrer damit im Unterricht zu beschießen. Alles, was bei uns erschienen war, war ja abgesegnet und durfte als Munition eingesetzt werden. Müller besuchte sogar einmal unsere Schule. Wie er da „FAZ“ sagte, das klang so weltmännisch, wir hatten die Zeitung ja noch nie in der Hand gehalten. In meinem Deutsch-Vortrag über Hamlet baute ich Müller ein: „Herr, brich mir das Genick im Sturz von einer Bierbank.“ Das war eine Sprache, mit der man etwas anfangen konnte, wenn man sonst eher auf Texte von AG Geige oder Feeling B stand, die man sich mündlich auf dem Schulhof überlieferte. Heiner Müller knallte, wir fanden ja auch den Prenzlauer-Berg-Dadaismus gut, weil es Erholung von der hölzernen Parteisprache bot. Aber noch besser war es natürlich, wenn der Nonsens auch noch lustig war, wie bei Ernst Jandl.

Zur Wende erschienen dann lauter Bücher von DDR-Autoren, die bisher verboten oder zensiert gewesen waren, überall tauchten bisher unterdrückte Varianten oder Kapitel auf. Bei der Armee kaufte ich mir einiges davon, unsere Kasernen-Buchhandlung wurde ja bevorzugt beliefert. Mein schönstes DDR-Buch hatte ich aber noch auf dem Wachturm bei Minus 15 Grad gelesen: Klaus Schlesinger Alte Filme. Ein Buch über einen jungen Mann aus dem Prenzlauer Berg, der morgens ins Transformatorenwerk Schöneweide zur Arbeit fährt. Wie wenig mich damals die Kalaschnikow interessierte, die ich über den Schultern trug, ist mir heute ein Rätsel, ich wollte nur endlich in Ruhe solche Bücher lesen.


Re-Reading DDR-Literatur mit Jochen Schmidt und Jakob Hein im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin, 10. November 2010

Über Jochen Schmidt erfährt man mehr auf seiner Homepage

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