Proust-Hörer wissen mehr

Proust I „Auf der Suche der verlorenen Zeit“ liegt als Gesamtlesung im Hörbuchvelag vor und wurde vom hr 2 prompt zum Hörbuch des Jahres gewählt. Jochen Schmidt hört zu

Lange Zeit habe ich beim Joggen Proust gehört, Die wiedergefundene Zeit, den letzten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, obwohl ich sonst eigentlich nicht mal Musik höre, weil es den Bewusstseinsstrom behindert, der die Anstrengung für ein paar Minuten vergessen lassen kann.

Ich weiß nicht, warum es Hörbücher gibt. Wann hören die Leute das alles? Eigentlich hat man doch nur beim Autofahren Zeit. Muss man davon ausgehen, dass in Millionen Autos täglich Literatur gehört wird? Sind sie vielleicht nur deshalb unterwegs? Im letzten Band der Recherche (wie Prousts Roman-Zyklus) kurz genannt wird) wird der Held nach seiner endgültigen Desillusionierung, als er die Hoffnung aufgibt, sich vielleicht doch noch an die Arbeit zu machen und zu schreiben, durch eine Reihe von Erinnerungsekstasen erlöst, um zu verstehen, welches Buch er zu schreiben hat.

Es ist eigenartig, diese kunstvolle Sprache zu hören, während man sich seinen Weg durch einen Hundehaufen-Parcours bahnt. Oft weiß ich gar nicht, wovon Proust spricht. Was zum Beispiel sind „Rumplertauben“? Ein Duft à la Lawrence? Bronzeziselierung von Gouthières? Perkalvorhang, Artesischer Brunnen, ein Aufbruch à l‘anglaise, nacaratfarbene Seide? Aber es macht nichts, ich werde das Buch ja immer wieder lesen; so wie das Schreiben nur durch Prousts Tod abgebrochen werden konnte, so kann die Lektüre kein Ende haben. Und das lebenslange Training natürlich auch nicht.

Ich laufe immer dieselbe Strecke, heikel ist der Anfang, weil es am Haus einer Ex-Freundin vorbeigeht, der ich nicht begegnen will, dann kommt der Mauerstreifen, und ich versuche immer, etwas historisches zu empfinden, wenn ich hier ohne Kugelhagel durchs ehemalige Niemandsland jogge. Aber die anästhesierende Wirkung der Gewohnheit, von der Proust spricht, beherrscht unser Leben, man braucht im Alter schon starke Reize, die Geschmacksknospen lassen nach. Proust beschreibt Paris im Ersten Weltkrieg, der Erzähler gerät in ein Haus, in dem sich Baron de Charlus von vermeintlichen Schlachthausgesellen und Mördern mit Nagelpeitschen schlagen lässt. Seitenlang, fast hätte ich gesagt kilometerlang, geht es um den Typus des „Invertierten“, davon verpasse ich vor Schreck einiges, weil auf der letzten Brache in meiner Straße nun wirklich Baufahrzeuge den Boden aufwühlen, schon länger warben hier Schilder für Luxus-Eigentumswohnungen mit „Naturlichtbad“, nun ist es also so weit, wir dürfen einen letzten Blick auf die schönen Berliner Brandmauern werfen, die noch an den Krieg erinnern.

Näselnde Diktion

Noch sieht man an den Häuserwänden den Schatten der Baracken, die hier einmal standen, Teerränder von ihren Dächern, vermauerte Fenster, ein einsamer, kleiner Schalter ist an einer kahlen Brandmauer übriggeblieben, was er wohl bewirkt? Gigantische Bohrer dringen in die Erde ein, und man kann es nicht verhindern. Meine Gegend wird genauso kippen wie der Rest vom Prenzlauer Berg, es deutet sich schon an. In allem, was man liebt, ist der Abschied schon enthalten. Die wahren Paradiese sind die verlorenen, sagt Proust.

Baulärm und Tegel ansteuernde Flugzeuge reißen aus dem Text Stücke heraus, die man nicht versteht, und auch sonst ist es schwer, den Gedanken immer zu folgen. An irgendwen erinnert mich der Sprecher Peter Matić, dessen Stimme sich scheinbar unbeteiligt gnadenlos im Text voranarbeitet (siehe Artikel im Kasten). Als ich das Buch las, habe ich jede Seite mindestens dreimal von vorn beginnen müssen. Diese näselnde österreichische Diktion, viele Jahr lang hat Peter Matić die gesamte Recherche eingelesen, und man merkt seiner Stimme keine Veränderung an, Stimmen altern ja kaum, das ist manchmal gespenstisch.

Was mich quält ist, dass ich die Stimme kenne, es macht mich verrückt, dass mir nicht einfällt woher. Es ist ja fast schon ein Gesellschaftsspiel, die Synchronsprecher zu identifizieren, das kann einem im Kino einen Film verderben, weil man einfach nicht drauf kommt. Ben Kingsley! Das ist es! Ich höre die Recherche mit der Stimme von Ben Kingsley!

Aber das ist noch nicht alles, irgendetwas sendet da immer noch Signale, von weiter unten, das Rätsel ist noch nicht vollständig gelöst. Proust beschreibt die Erinnerungsekstasen seines Erzählers, die von der Appretur einer Serviette ausgelöst werden können, von der Unebenheit des Straßenpflasters. Alles kann uns dieses einzig wahre Glück schenken, die verloren geglaubte Zeit unwillkürlich in uns wiederzufinden. Ein Effekt, mit dem die Werbung inzwischen arbeitet – jedes neue Produkt soll in uns etwas anstoßen, als gehöre es längst zu unserem Leben. Prousts Lehre ist allmächtig, weil sie wahr ist. Seine Überlegungen zum Schreiben, die in diesem letzten Band ausgeführt werden, gegen den „kinematografischen“ Roman, gegen eine „welthaltigere“ Literatur, man möchte sie den Kritikern von heute gelegentlich um die Ohren hauen.

Es ist unwichtig, welchem Gegenstand der Autor sich widmet, es gibt keinen unwürdigen, solange er seiner Wahrheit folgt, und es gibt nur eine Wahrheit, sein Leben einem wirklichen inneren Anliegen zu opfern, das unsere individuelle Existenz nur wie eine schützende Epidermis umgibt. Darin liegt die radikale Aussage seiner Kunst, und sie ist alternativlos. Eine anspruchsvolle Utopie, jeder Mensch hat die Wahl, diesen Weg zu gehen, die meisten wählen aber die Gewohnheit, die Abwehr der Leiden, die doch unsere Lehrmeister sind.

Mehr als 150 Stunden

Ich passiere ehemalige Garagen der Grenztruppen und freue mich über das DDR-Bürgersteigpflaster, die Wege sind gesäumt von meinen geliebten Laternen, die so lange überlebt haben, in Berlin aber in naher Zukunft durch andere Modelle ersetzt werden sollen. Sogar das Licht tauschen sie aus! Noch während wir leben, wird die Kulisse abgebaut, die Dinge, an denen wir hängen, und wir müssen dabei zusehen. Ohne diesen Prozess gäbe es aber auch nicht das Glück, etwas verloren geglaubtes zu entdecken, eine Narva-Glühbirne, die in einer vergessenen Laterne immer noch leuchtet, einen verrosteten Fahnenständer auf einem verwilderten Grundstück.

Ich erreiche den Park und staune über das bunte Herbstlaub, ein besserer Autor als ich würde Worte dafür finden, hier hatten wir Schulwettkämpfe im Crosslauf, das liegt Äonen zurück. Ein Multicar der Parkwirtschaft kommt mir entgegen, diese Autos gibt es noch? Seltsam, was aus der DDR überlebt hat. 20 Stunden Proust höre ich, 20 Mal Joggen, und das ist nur der letzte Teil dieser Hörbuchedition, die insgesamt 113 klassische CDs umfasst oder immerhin auch noch 17 MP3 CDs, das sind mehr als 150 Stunden.

Wenn es stimmt, dass Hörbücher für Doofe sind, dann ist dieses für Doofe mit viel Freizeit. Sollte man es nicht in Fabriken abspielen, auf Ämtern in Fahrstühlen, in den Wartezimmern der Arztpraxen, bei Extra und Rewe, überall Proust in einer Endlosschleife? Die Welt würde jedenfalls nicht schlechter werden. Jetzt habe ich es! Der jüdische Philosoph in Woody Allens Verbrechen und andere Kleinigkeiten! Daher kenne ich die Stimme! Dieser freundliche alte Herr, der endlos über das Glück spricht, für ein Fernseh-Feature, das der Held über ihn machen will, und dann bringt er sich um, und die vielen Stunden Material sind wertlos, eine von Woody Allens besten Pointen.

Gerade habe ich die Brachfläche hinter der S-Bahn erreicht, hier lagerten einmal die Betonscheiben der Berliner Mauer, wahrscheinlich wird schon von irgendwem ein Einkaufscenter geplant, das hier entstehen wird, zuerst werden sie eines dieser Schilder aufstellen, auf denen das Ungetüm als Computergrafik zu sehen ist. Wegen Stuttgart 21 wird die Lüge kolportiert, in Deutschland könne nicht mehr gebaut werden, dabei kommt Berlin seit 20 Jahren nicht zur Ruhe. Unsere Gesellschaft baut so viele Museen, damit man alles, was nicht dort aufbewahrt wird, umso rücksichtsloser zerstören kann. Nur an Friedhöfen und Laubenkolonien dürfen sie sich nicht vergreifen. Schrebergärten sind für mich größere Bildungserlebnisse als ein Besuch im Deutschen Historischen Museum, eine faszinierendere Subkultur als das, was sich im Berghain abspielen mag.

Wenn ich laufe, denke ich daran, wo ich in diesem Jahr schon gelaufen bin, und stelle mir die großen Fragen: Wer bin ich? Wer war ich vor zehn Jahren? Warum bin ich immer unzufrieden mit dem Erreichten? Wie lange werde ich mich noch so elastisch bewegen können? Proust war ja Asthmatiker und so richtig zu schreiben hat er erst begonnen, als er zu schwach wurde, sich in der Gesellschaft herumzutreiben. Er hat als erster das Heraufkommen einer neuen, sportlichen Unterschicht beschrieben. Der jahrelange Aufenthalt im Bett war aber keine Ein­schrän­kung seiner Existenz, sondern die Arbeit an seinem Buch war die Erfüllung, die Wahrheit unter der Epidermis des Alltags. Was für wunderbare Bewusstseinsströme hatte ich beim Laufen, wie oft dachte ich, jetzt hätte ich endlich verstanden, was ich schreiben will, und ich sah es klar vor mir, ich musste nur nach Hause kommen und zu arbeiten beginnen, aber an meinem herrlichen Schreibtisch, an dem alles auf die Arbeit ausgerichtet ist, hatte sich die Epiphanie verflüchtigt, und ich hielt es keine Minute hier aus.

Aber es gibt eine Erlösung, und die kommt erst nach der totalen Desillusionierung. Und als ich die Stufen zu meiner Wohnung hochgehe, wird mir plötzlich klar, woher ich die Stimme von Peter Matić ursprünglich kenne, und ich höre ihn sagen: „Zuviele Noten.“ Der Kaiser Josef II. aus dem Milos Formans Mozart-Film! Daher der näselnde Ton! 1987 muss das gewesen sein, im Kino Colosseum. Ich bin erleichtert, das Grübeln hat mich mehr als das Laufen ermattet, wieder ist ein Rätsel gelöst, kein großes, die Welt bewegendes, aber eines von der Sorte, die mich beschäftigen.

Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit. Die Wiedergefundene ZeitMarcel Proust und Peter Matic Hörverlag 2010, Audio CD, 79,00

Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit, Teil 1-7 GesamtausgabeMarcel Proust und Peter Matic Hörverlag 2010, Audio MP3 CD, 134,99

Diese Lesung ist nicht die erste veröffentlichte von Auf der Suche nach der verlornenen Zeit. Die beiden Schauspieler Bernt Hahn und Peter Lieck lasen von März 1997 bis November 2003 gemeinsam in der Lengfeld'schen Buchhandlung in Köln Prousts Recherche. Ab 2001 erschienen diese Lesungen, gefördert von den Literaturfreunden der Lengfeld'schen Buchhandlung e.V., in regelmäßigen Abständen als Hörbuchausgabe. Seit März 2008 liegt die Gesamtausgabe in Form von 13 CD-Kassetten vollständig vor auf insgesamt 135 CDs mit einer Lesedauer von ca. 162 Stunden. Sie ist über die Lengenfeld'sche zu beziehen.

Der Schriftsteller Jochen Schmidt hat für den Freitag zuletzt über das

Leseland DDR

geschrieben. Den legendären Blog zu seiner Lektüre der Recherche gibt es als Buch: Schmidt liest Proust, Voland Quist 2008, 608 S., 19,90

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