Hensches flammender Appell

Erste Bundesdelegiertenkonferenz der WASG Welcher Anker wäre geeignet, um die neue Partei verlässlich und glaubwürdig zu verorten?

Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört." Diese Worte von Willy Brandt, am 10. November 1989 in Berlin gesprochen, nahmen die Gründer der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) dankbar auf: "Jetzt fügen wir zusammen, was zusammen gehört." Am 3. Juli dieses Jahres gründeten die eher aus der Wissenschaft kommenden Nordlichter der "Wahlalternative" und die eher gewerkschaftlich geprägten Südlichter der Initiative "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" zunächst einen gemeinsamen Verein, um die Kräfte zu bündeln. Damals im Sommer war die Zeit noch nicht reif für das eigentliche Ziel: die Gründung einer neuen Partei, die dem Wähler 2006 eine glaubwürdige Alternative bietet.

Die erste Bundesdelegiertenkonferenz der WASG sollte nun, so war es geplant, einen Schritt weiter gehen. Der Humboldtsaal in der ehemaligen Freien Reichsstadt Nürnberg war klug gewählt. Seine kompakten Maße zwangen zum Schulterschluss und beförderten die Bereitschaft der rund 250 Delegierten, politische Differenzen sachlich auszutragen. Wer sich auf das öffentliche Schauspiel linker Selbstzerfleischung gefreut hatte, wurde am vergangenen Wochenende enttäuscht. "Mit wahrhafter christlicher Geduld unerträgliche Schlingel anhören, ohne nur durch eine Miene zu verraten, wie sehr sich meine Seele ennuyierte" - diese Erfahrung, von Heinrich Heine in seinen "Reisebildern" beschrieben, blieb Teilnehmern wie Beobachtern erspart.

Aus dem Stand innerhalb von zwei Jahren anzutreten, um bei der Bundestagswahl die Fünfprozentmarke zu überspringen, ist ein ehrgeiziges und in Deutschland bisher einmaliges Unterfangen. Eine erste Hürde wurde mit dem Beschluss, Partei zu werden, genommen, doch der Weg ist noch weit und steinig. Mit Enthusiasmus allein wird die neue linke Kraft in diesem Land ihr Ziel nicht erreichen. Das Bleigewicht der deutschen Geschichte ist bis heute spürbar. Auf gleicher Augenhöhe mit Konservativen und Liberalen akzeptiert zu werden, mag in Frankreich oder Italien eine Selbstverständlichkeit sein. Aber die Linke in Deutschland kommt an den Spätfolgen des kalten Krieges und an der Selbstdiskreditierung des Sozialismus in der DDR nicht vorbei. Das gilt auch für die WASG.

Sie sollte sich "nicht am extremen linken Rand, sondern in der Mitte des linken Spektrums" etablieren, forderte Klaus Ernst, einer der wichtigsten Initiatoren der neuen Partei und in Nürnberg in den geschäftsführenden Bundesvorstand gewählt. Dass irgendeine nebulöse "Systemüberwindung" nicht der programmatische Bezugspunkt sein kann, wenn man Erfolg bei den potenziellen Wählern erzielen will, war unter den Delegierten weitgehend unstrittig. Aber welcher Anker wäre geeignet, um die neue Partei verlässlich und glaubwürdig zu verorten?

Detlev Hensche, der frühere Vorsitzende der IG Medien, nannte in seinem Eingangsreferat das Grundgesetz. Dieser Gesellschaftsvertrag aller Deutschen sei nicht nur das Resultat der schmerzhaften Erfahrungen von Kommunisten, Sozialdemokraten, Zentrum und Liberalen mit Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Das Grundgesetz biete mit seinem ausdrücklichen Bezug auf Menschenwürde, Rechtsstaat und Sozialstaat auch die Chance, eine gerechtere Gesellschaft als Verfassungsauftrag zu benennen. Warum also nicht an Wolfgang Abendroth anknüpfen? Der Marburger Politik-Professor, bis Anfang der sechziger Jahre Mitglied der SPD und später einer der wichtigsten Ratgeber der Studentenbewegung, hatte immer wieder auf den besonderen Charakter des Grundgesetzes hingewiesen: Es setze klare Maßstäbe für ein zivilisiertes Gemeinwesen und sei darüber hinaus offen für verschiedene Entwicklungspfade der bürgerlichen Gesellschaft.

Trotz des flammenden Appells von Detlev Hensche, das Grundgesetz in Geist und Buchstaben ernst zu nehmen, waren sich die Delegierten offenbar nicht so sicher, dass in ihm die programmatische Klammer zu finden sei. Der Antrag eines Landesverbandes, der sich mit dem Titel "Den Staatsstreich stoppen, für den Ausbau der sozialen Demokratie" ausdrücklich auf das Grundgesetz bezog, bekam nur eine äußerst knappe Mehrheit.

Das Verhältnis zur PDS schwankt in der Mitgliedschaft der WASG zwischen völliger Ablehnung und kritischer Distanz. Beim Bundeskongress spielte es fast keine Rolle. Die politische Vernunft gebietet jedoch, dass beide Parteien, die über thematische und programmatische Schnittmengen verfügen, vorbehaltlos und nüchtern ausloten, wie sie als Konkurrenten bei der nächsten Bundestagswahl miteinander umgehen. Die WASG sollte erkennen, dass die PDS letztlich nicht Gegner, sondern Partner ist. Die PDS ihrerseits wird sich der Erkenntnis nicht verschließen können, dass sie im Westen auf absehbare Zeit eine Randerscheinung bleibt.

Nach der ersten Bundesdelegiertenkonferenz bleiben sowohl die programmatischen Lücken als auch die organisatorischen Aufgaben unübersehbar, vor denen die WASG noch steht. Aber angesichts einer Allparteienkoalition im Deutschen Bundestag, die vor dem entfesselten Kapitalismus kapituliert, den Sozialstaat opfert und sich in bedenkliche Nähe zum Verfassungsbruch begibt, hat sie durchaus die Chance, im Herbst 2006 als Opposition ins Parlament einzuziehen. Sie wird, wenn sie klug handelt, nicht nur den Opfern des "Raubtierkapitalismus" (Helmut Schmidt) eine Stimme geben, sondern auch diejenigen vertreten, die sich noch am sicheren Ufer wähnen, aber innerhalb eines Jahres vom gutbezahlten und treuen Einzahler in die Sozialkassen zum Zwangsarbeiter und Almosenempfänger werden könnten.


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