Lange habe er die Arbeit an diesem Projekt ruhen lassen, schreibt Helmut Lethen, denn er habe geglaubt, dieses „ ‚Quartett‘ höchstens in Form eines Puppenspiels realisieren zu können“. Theater ist es dann doch geworden, bei dem Lethen nicht nur Regie führt, sondern auch alle Fäden in der Hand behält. In Wirklichkeit sind sich die vier preußischen Staatsräte – der Dirigent Wilhelm Furtwängler, der Schauspieler Gustaf Gründgens, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch und der Staatsrechtler Carl Schmitt – so nie begegnet. Hier wird also nicht bloß ein Schauspiel aufgeführt, sondern ein Experiment durchgeführt, in dem die Begriffe, mit denen Lethen in seinen Verhaltenslehren der Kälte von 1994 das „neusachliche Jahrzehnt“ deutete oder 2006 den Sound der Väter zu fassen versuchte, von seinen Figuren in Stellung gebracht werden. Es ist eine Art Alterswerk geworden, nicht nur in der Unbekümmertheit, mit der hier Ideengeschichte literarische Fantasie wird, sondern auch in der Vollendung, in der Lethens eigener Sound erklingt und seine Lebensthemen – das Pathos der Distanz, die Figur des Hochstaplers, der Schutz hinter Panzer und Maske – zusammengefügt werden.
Berühmte Formulierung
Die Neugründung des Preußischen Staatsrats 1933 durch Hermann Göring, der seine Rolle im NS-Staat durchaus schauspielerisch auffasste und zuletzt auf den Status eines Mimen reduziert wurde, war selbst eine Inszenierung, eine Täuschung. Denn die Idee eines beratenden Gremiums der aristoi, der Besten, das Hitler unparteiisch zur Seite stehen würde, war „von Anbeginn zum Scheitern verurteilt“, wie Lethen schreibt. Solchen Rat glaubte der Führer nicht nötig zu haben. Nach 1936 wurde der Staatsrat nicht mehr einberufen, und diese Kränkung mag im Rahmen der Fiktion das Band gebildet haben, das die vier sich einander sonst bestenfalls argwöhnisch begegnenden Koryphäen die Einladungen zu den von Lethen ausgedachten Hausgesellschaften annehmen ließ.
Lethen gelingen brillante Aperçus, etwa der Gründgens untergeschobene Gedanke, womöglich sei „Langeweile für Schmitt der eigentliche Antichrist“, womit die Schmitt’sche Geschichtseschatologie perfekt getroffen ist. Schmitt meint hingegen von Gründgens: „Der kennt das Böse doch nur als Rolle auf der Bühne“, während er selbst als Jurist und Katholik sich auf Du und Du mit ihm wähnt. Die beiden Hamlet-Interpreten sind die Hauptfiguren dieses Buches. Sie eint etwas Dämonisches, das den Altkonservativen Sauerbruch und Furtwängler abgeht, und sie sind es, die am deutlichsten die „Verhaltenslehren“ verkörpern. Bei Gründgens sitzt die Maske am perfektesten, nicht nur von Berufs wegen: Als Homosexueller hat er noch eine gefährliche Schwäche mehr zu verbergen.
Wenn Lethen Schmitt sagen lässt: „In Ausnahmesituationen durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik des zivilen Lebens“, so klingt darin nicht nur die berühmte Formulierung aus der Politischen Theologie an, die Analogie der souveränen Tat zum Wunder, sondern auch der Einbruch der Zeit in das Spiel, der Untertitel von Schmitts Nachkriegswerk Hamlet oder Hekuba. Dessen Überlegungen – zu denen Schmitt sich von Walter Benjamins Trauerspiel-Buch inspirieren ließ – spiegeln sich auch hier wider: einmal in der Annahme vom Schauspielcharakter des Lebens, spezifisch aber in der Behandlung des „Schauspiels im Schauspiel“, von dem Schmitt betont, es sei „etwas anderes als ein Blick hinter die Kulissen“. Vielmehr handele es sich bei solchem „Spiel im Spiel“ um „das eigentliche Schauspiel selbst“, in dem Hamlet einen Königsmord vorführen lässt, um den zuschauenden König zu überführen: „Das Schauspiel sei die Schlinge, / In die den König sein Gewissen bringe.“
Ob Helmut Lethen mit seinen Kammerdramen, die er passend zum Hamlet-Motiv „Geistergespräche“ nennt, eine ähnliche Absicht verfolgt? Ihm eine pädagogische Intention mit Blick auf die Gegenwart und das Erstarken der Neuen Rechten zu unterstellen, schiene zu plump. Allerdings weist er selbst darauf hin, die „Auseinandersetzungen“ mit seiner in der rechten Szene publizistisch aktiven Frau Caroline Sommerfeld hätten das Buch „unter Strom gesetzt“. Auf keinen Fall spricht Lethen in den Staatsräten als Unbeteiligter, wie es auch zu einfach wäre, klar zwischen Darstellern und Publikum zu unterscheiden, denn der emeritierte Germanistikprofessor lässt hier vier Schauspieler sich gegenseitig beobachten. Wo es um „Köpfe“, um „figureheads“, Galionsfiguren des Dritten Reiches geht, ist auch die Physiognomik immer mit im Spiel: Lethen beschwört Geister, indem er Schädel studiert: Die Schädel von gleich vier Hamlets, die ihrerseits im Angesicht des Totenschädels Rechenschaft ablegen.
Irrtum Hitler
Nicolaus Sombart hat Schmitts Hamlet-Büchlein als Versuch gelesen, „uns seinen ‚Irrtum‘ mit Hitler zu erklären“. Schmitts Versagen sei dasjenige des ewigen Zauderers Hamlets gewesen, den gemeuchelten Vater zu rächen, indem er „seine Mutter, die Königin, unter das Gesetz“ beugte. Wir hätten es hier demnach mit vier Söhnen des Wilhelminismus (der hier den „Vater“ gibt) zu tun, die sich allesamt insgeheim eine Rückkehr zu den Müttern – „diesem beliebten deutschen Aufenthaltsort“, so der im Hintergrund stets gegenwärtige Gottfried Benn – erhofft haben mögen. Aus der fatalen Weigerung, sich diese Anziehung der Deindividuation, der Ich-Auflösung in der Volksgemeinschaft, einzugestehen, würde sich nicht nur ihr ausbleibender Widerstand erklären, sondern auch ihr gerade im Falle des Rechtspflegers Schmitt besonders peinliches Unvermögen, den Gesetzesstaat aufrechtzuerhalten.
Den vier Staatsräten unterstellt Lethen Vertrautheit mit dem Handorakel des Barockautors Baltasar Gracián. Wahrscheinlich kannten die Nostalgiker des Wilhelminismus dann auch §120: „Der Kluge passe sich … der Gegenwart an, wenn gleich ihm die Vergangenheit besser scheine.“ Die Rezeptionswege des Handorakels hat Lethen bereits in einem autobiografischen Bericht von 2012 nachgezeichnet; hier spielt er es gegen ein neueres aus, Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft von 1924, das Schmitt kannte, aber verleugnete. Wäre er Plessner treu geblieben, legt Lethen nahe, wäre Schmitt vor der Verlockung der Volksgemeinschaft gefeit gewesen. In seiner Hamlet-Situation hätte er sich anders entscheiden können, nahm jedoch noch im inneren Exil der Nachkriegsjahre die Gracián-Maske nicht ab. Graciáns Handorakel ist ein Brevier der Verstellung, ein Manifest der Uneigentlichkeit. Lethen zeigt, wie eitel – auch im Sinne von „vergeblich“ – solche Kunst vor der Macht war, wie viel Selbstbetrug darin lag. Schauspieler waren sie alle, gerade vor sich selbst.
Info
Die Staatsräte: Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt Helmut Lethen Rowohlt 2018, 352 S., 24 €
Die Bilder des Spezials
Noroc heißt Glück und Gesundheit und ist ein rumänischer Ausdruck, den man verwendet, wenn man jemandem zuprostet oder sich verabschiedet. „Noroc!“, viel mehr Kommunikation fand manchmal nicht statt zwischen dem 1984 in Brüssel geborenen Fotografen Cedric Van Turtelboom und seinen Protagonisten. Noroc ist der Titel seiner Fotoserie aus Rumänien. Das Motto: sich immer bei einem Einheimischen einzuquartieren. Van Turtelboom nähert sich mit absurdem Humor einem bizarren Land und lässt uns irgendwo zwischen Dokumentation und Wintermärchen zurück, besser gesagt: mitreisen.
Der Bildband ist in limitierter Auflage erschienen und kann über cedricvanturtelboom.com bezogen werden. Noroc, 86 Seiten, 170 x 224 mm, 30 €
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