Man ist hierzulande wieder soweit, dass die Politik das Recht dominiert. Wieder, weil dies Maxime des offiziellen Rechtsverständnisses in der DDR war. Mit dem Recht dürften keine Zäune gebaut werden, hieß es damals. Das Recht hat aber Politik und Macht zu begrenzen, hat sich in Distanz zur Macht zu halten, heißt es bei Kant. Es war gerade die Virulenz dieses rechtsstaatlichen Grundsatzes, der das Ende des Staatssozialismus beschleunigte. Und jetzt? Besonders in der Frage von Krieg und Frieden bestimmt die Politik, was Recht ist. Der Krieg gegen Afghanistan ist völkerrechtlich gedeckt! So das offizielle Machtwort, das apodiktisch auf Artikel 51 der UN-Charta und die angebliche Legitimation durch den Sicherheitsrat abhebt.
Kritische Stimmen sind unerwünscht und werden kaum zur Kenntnis genommen, wie eine Freiburger Juristen-Erklärung zur Achtung des Völkerrechts (taz / 5.11.2001). Darin hieß es, die völkerrechtliche Zulässigkeit der Militärschläge gegen Afghanistan stehe entgegen der Auffassung im Regierungslager nicht fest. Vor allem deshalb nicht, weil die nach dem 11. September verabschiedeten Sicherheitsratsresolutionen, auf die immer wieder Bezug genommen wird, gerade keine Grundlage für die Operationen der USA und ihrer Alliierten darstelle. Der Sicherheitsrat habe die Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der UN-Charta nämlich gar nicht festgestellt. Dabei gingen die Freiburger Juristen noch nicht einmal so weit wie der amerikanische Völkerrechtler Francis Boyle, der unumwunden von einem "illegalen Krieg gegen Afghanistan" spricht.
Die Arroganz der Macht, die das Völkerrecht domestiziert, ist ebenfalls nicht neu. Als die UdSSR 1979 den Krieg gegen Afghanistan begann, wurde durch die DDR-Machthaber die "Wahrheit" verkündet, es handle sich um einen durch Artikel 51 der UN-Charta legitimierten Verteidigungskrieg. Diese "Wahrheit" sei absolut, weiteres Nachdenken überflüssig. Den Aufruf der DDR-Bürgerrechtler empfinde ich daher nicht zuletzt als Appell an diejenigen, die erkannt haben, dass es - wie der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel schreibt - auch in der Demokratie gelungen ist, ein "Einheitsdenken" durchzusetzen. Und ein juristisches Denken, das sich Herrschaftsstrukturen nicht widerspruchslos unterwirft, ist insofern ein Mittel, um dem "Einheitsdenken" in der Frage von Krieg und Frieden zu entrinnen.
Der amerikanische Strafrechtler George Fletcher diskutiert diese Frage anhand der Differenz zwischen Gerechtigkeit und Krieg und frei von jenem Zynismus, wie ihn etwa Michael Walzer offenbart, wenn er Krieg als Chance für die Linke betrachtet, weil der die Leute zwinge, mehr auf die Rolle des Staates zu achten. Hätte es sich am 11. September um eine "Kriegserklärung der Terroristen" gehandelt, dann - so Fletcher - sei die militärische Antwort auf den Schutz vor diesen Terroristen gerichtet. Wenn man aber nicht von einem "Krieg der Terroristen" sprechen könne, müsse es um die Herstellung von Gerechtigkeit gehen, die allerdings nicht mit Krieg, sondern mit einer juristischen Bestrafung der Täter zu erreichen sei.
Ist damit das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Krieg geklärt? Anders formuliert: Kommt es darauf an, das am 11. September begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einem gewaltsamen Angriff zu unterscheiden? In einem gerade an der Berliner Humboldt-Universität gehaltenen Vortrag bejaht der deutsche Völkerrechtler Christian Tomuschat diese Frage. Nach allgemeiner Ansicht - so Tomuschat - habe es sich bei den Anschlägen nicht um einen Krieg gehandelt. Die Attentäter seien daher nicht wie Kombattanten in einem bewaffneten Konflikt zu privilegieren. Vielmehr handele es sich um einen terroristischen Akt, der durch das Strafrecht geahndet werden müsse.
Kriege werden in der Regel im Namen der Gerechtigkeit geführt. Mit Blick auf den 11. September wird gar von einem "heiligen Krieg" und "grenzenloser Gerechtigkeit" gesprochen. Angreifer und Verteidiger können unter Hinweis auf die Gerechtigkeit ihre Perspektiven beliebig wechseln; aus dem Angreifer wird der Verteidiger und aus dem wieder der Angreifende. Ein solcher Gebrauch des Begriffs Gerechtigkeit erscheint also nicht sehr hilfreich. Sinnvoller könnte es sein - um an den deutschen Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann anzuknüpfen -, Gerechtigkeit nach Maßgabe der jeweils bestehenden situativen Umstände zu konkretisieren und als friedensstiftende Vernunft anzusehen.
Was würde das für die Reaktion auf den 11. September bedeuten? Zum einen könnte es legitim und gerecht sein, dass auf den Angriff der Terroristen mit militärischer Gewalt reagiert wird, und zwar dann, wenn es sich um Notwehr handelt, das heißt, wenn die Gewaltanwendung zur Abwehr des Angriffs dient, sich also als Verteidigungsmittel erweist. Legitim ist auch Nothilfe, sprich: die Abwehr eines Angriffs durch einen anderen. Legitim wären des weiteren militärische Maßnahmen, würde es sich mit dem 11. September um eine Bedrohung des internationalen Friedens handeln. Die Legitimität eines solche Krieges muss sich allerdings strikt im Rahmen der Legalität bewegen. Gerade auf der Ebene des Völkerrechts gibt es im Kontext Krieg - Frieden keine Legitimität ohne Legalität.
Für die gegebene Situation bedeutet das: Die Legitimität der militärischen Maßnahmen ist an die Voraussetzungen gebunden, die in der UN-Charta verankert sind. Entweder muss der Sicherheitsrat Staaten zum Einsatz militärischer Gewalt ermächtigen, um eine Bedrohung des internationalen Friedens abzuwenden (Kapital 7/UN-Charta), oder es liegen die Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts der USA nach Artikel 51/UN-Charta vor. Der Sicherheitsrat hat jedoch keine Ermächtigung zur Gewaltanwendung ausgesprochen, sondern lediglich in allgemeiner Weise bekräftigt, dass die UN-Satzung ein Selbstverteidigungsrecht anerkennt. Militärschläge gegen die Taleban wären demnach nur dann zulässig, stünde zweifelsfrei fest, dass diese für die Attentate vom 11. September verantwortlich und in naher Zukunft weitere schwere Anschläge von afghanischem Territorium aus denkbar seien, die sich nur durch militärische Gewalt verhindern ließen. Nicht eine dieser Tatsachen wurden bisher stichhaltig bewiesen.
Wäre dies der Fall, wäre also Verteidigung damit legal, dann müssten die Verteidigungsmittel wie auch die militärischen Maßnahmen verhältnismäßig und begrenzt sein. Das völkergewohnheitsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit wurde beispielsweise in den Genfer Rot-Kreuz-Abkommen konkretisiert, die von allen 189 UN-Mitgliedsstaaten ratifiziert wurden.
Das Völkerrecht kennt weder ein Recht auf Rache, noch auf Vergeltung, noch auf vorsorgliche Tötung - die schon von daher illegalen Bombenangriffe der USA und Großbritanniens auf Afghanistan respektieren nun aber noch nicht einmal den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (ius in bello). Man denke nur an den Einsatz von Streubomben, deren Opfer nicht selten Zivilisten in einer ohnehin von Landminen verseuchten Region sind. Hierin drückt sich ein krasser Verstoß gegen die Ziel-Mittel-Relation aus.
Wenn aber die legalen Voraussetzungen einer Selbstverteidigung nicht gegeben sind und selbst die Mittel der demzufolge illegalen Reaktion - die ihrerseits noch so legitim erscheinen mag - unverhältnismäßig und gar untauglich sind, dann bleibt als unmittelbare Reaktion (der Gerechtigkeit) nach dem 11. September nur die juristische Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung der Täter - dann bleibt nur die Möglichkeit einer begrenzten internationale Polizeiaktion, für die rechtliche Voraussetzungen vorliegen müssen (allerdings nicht im Sinne der US-Aktion in Panama gegen General Noriega Ende 1989, der damals 3.000 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen). Das Vorliegen eines Haftbefehls, der sich auf einen durch Beweise abgesicherten Verdacht für die Urheberschaft, Unterstützung oder Ausführung der Terrorakte stützen muss, wäre dabei eine juristische Selbstverständlichkeit. Ein Tötungsbefehl ohne Gerichtsurteil kommt einer vorweggenommenen Todesstrafe gleich und verbietet sich.
Von diesem Grundsatz der juristischen Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Terrorismus kann der "Staatsterrorismus" nicht ausgenommen werden - auch dies ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Ein krasser Verstoß gegen die Ziel-Mittel-Relation ist letztlich Ausdruck von "Staatsterrorismus", wozu auch die Tötung unschuldiger Menschen durch eine Bombardierung ziviler Einrichtungen des Roten Kreuzes und der UNO gehört. Zwar ist es ungewöhnlich, den Begriff "Staatsterrorismus" mit demokratischen Systemen in Zusammenhang zu bringen, zumal eine juristische Definition bislang fehlt. Aber welcher andere Begriff wäre besser geeignet, um damit einerseits zumindest der propagandistischen Beschönigung "Kollateralschäden" zu entgehen und andererseits darauf hinzuweisen, dass es sich beim Afghanistan-Krieg um die Vernichtung menschlichen Lebens auch aus geostrategischen und ökonomischen Interessen handelt? Juristisch gesehen wäre der Begriff der Kriegsverbrechen heranzuziehen, soweit es um die Unverhältnismäßigkeit von Kriegsführung geht (auch eine künftige Definition von Staatsterrorismus wird ihn wohl berücksichtigen müssen).
Die deutsche Regierung, die diesen "Staatsterrorismus" bislang nur psychisch unterstützt ("uneingeschränkte Solidarität"), setzt sich damit dem Verdacht auf Beihilfe zu staatsgesteuerten, schweren Menschenrechtsverletzungen aus. Das besagt das sogenannte "Weltrechtsprinzip" (§ 6 Nr. 9 StGB), wonach das deutsche Strafrecht auch bei Verletzung der Genfer Rot-Kreuz-Abkommen zur Verfolgung von Kriegsverbrechen zur Anwendung kommt. Ein zumindest bedingter Vorsatz ergibt sich nach deutschem Recht aus einer bewussten, uneingeschränkten Zustimmung zur Anwendung unverhältnismäßiger Kriegsmittel. Der Tatbestand aktiver Beihilfe wäre dann erreicht, sollte es eine Beteiligung - etwa durch die Entsendung von Soldaten - an einem mit unverhältnismäßigen Mittel geführten Krieg geben. Dies gilt unabhängig davon, ob ein aktiver Beitrag zur Anwendung dieser Mittel geleistet wird.
Würden sich Juristen der Erkenntnis nicht verschließen, dass nicht nur diktatorische Systeme, sondern auch die westlichen Demokratien und ihre Regierungen vor schweren Menschenrechtsverletzungen nicht halt machen, wäre bereits viel gewonnen. Dann nämlich ließen sich die Bemühungen um ein Völkerstrafrecht zum Schutz der Menschenrechte und des Friedens (wie mit dem Rom-Statut zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs) in eine universelle Richtung lenken, um die bisherigen Einbahnstraßen zu verlassen. Nicht nur privater, kommerzialisierter Terrorismus, sondern auch Staatsterrorismus jeglicher Prägung könnte dann durch die Strafjustiz verfolgt werden.
Dr. Jörg Arnold ist Rechtsanwalt und Privatdozent, er war sowohl in der Justiz als auch in der Rechtswissenschaft tätig. Heute forscht er unter anderem zu den Themen staatsgesteuerte Kriminalität und Menschenrechtsschutz durch Strafrecht (vgl. Freitag: 14/17 und 18/2001). Arnold ist Autor und Herausgeber des Buches Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR, Nomos Verlag, Baden-Baden 2000, sowie Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen, unter anderem: Überpositives Recht und Andeutungen völkerrechtsfreundlicher Auslegung von Strafrecht, in: Festschrift für Gerald Grünwald zum 70. Geburtstag, Nomos Verlag, Baden-Baden 1999.
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