Im Geschirr von Strafe und Vergeltung

DEUTSCHER SONDERWEG Die gerichtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit im Vergleich zu anderen Transformationsstaaten (Teil 1)

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zum Streit um die strafrechtliche Ahndung der tödlichen Schüsse auf Flüchtlinge an der Grenze der DDR zur BRD (s. Freitag, 14/2001 - Straßburger Entscheidung zum "Fall Krenz") wurde vielfach als vorläufiger Schlusspunkt unter die juristische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gewertet. Ohnehin ist nach mehrfacher Verlängerung der Verjährungsfristen seit dem 3. Oktober 2000 nur noch eine strafrechtliche Verfolgung von "schwerstem DDR-Unrecht" möglich. Ein erstes Resümee bietet sich also an. Wir wollen dieses Fazit mit einer Artikelfolge ziehen, die sich nicht mit dem "deutschen Modell" allein beschäftigt, sondern es mit den juristischen Formen von Vergangenheitsbewältigung in anderen Transformationsländern vergleicht - in Osteuropa, Südafrika oder den einstigen Militärdiktaturen Lateinamerikas.

Es sei legitim, dass ein Rechtsstaat gegen Personen Strafverfahren durchführe, die unter einem früheren Regime Straftaten begangen hätten. Nicht allein die Bundesrepublik Deutschland habe vor diesem Problem gestanden, sondern auch eine Reihe anderer Staaten, die einen Systemwechsel durchliefen. Nicht zuletzt mit dieser Feststellung hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg vor wenigen Wochen seine Entscheidung zu den Verfahren wegen der Todesfälle an der deutsch-deutschen Grenze begründet. Betrachtet man allerdings jene Länder, die damit im Einzelnen gemeint sind, etwas genauer, ergeben sich aufschlussreiche Beobachtungen.

Um zunächst nur einige Beispiele anzuführen: In Polen und Ungarn etwa bezog sich die strafrechtliche Verfolgung bisher auf sehr wenige, dafür aber besonders schwerwiegende Handlungen in bestimmten Perioden der staatssozialistischen Vergangenheit. In Ungarn galt das vorrangig für die strafrechtliche Auseinandersetzung mit der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes von 1956. Bezogen auf 40 aufgeklärte Fällen von Massenerschießungen erhob die Staatsanwaltschaft in sieben davon Anklage, wobei drei Beschuldigte rechtskräftig verurteilt wurden. Bis Ende 1997 haben polnische Gerichte 25 Personen wegen stalinistischer Verbrechen in den vierziger Jahren verurteilt. Die Strafverfolgung richtete sich außerdem gegen exponierte Politiker aus dem letzten Jahrzehnt der Volksrepublik wie General Wojciech Jaruzelski (*) und den ehemaligen Vizepremier Kociolek, denen vorgeworfen wurde, für die Erschießung von Danziger Werftarbeitern 1970 verantwortlich zu sein. Ähnlich erging es dem einstigen Innenminister Kiszczak. Ihm wurde der Tod von Bergarbeitern zur Last gelegt, die gegen das 1981 eingeführte Kriegsrecht demonstriert hatten. Die Verfahren endeten zunächst mit Einstellung oder Freispruch, wurden aber inzwischen wieder aufgerollt. (Prominente Dissidenten wie Adam Michnik und Adam Kuron haben indessen öffentlich erklärt, dass sie sich mit Jaruzelski und Kiszczak ohne Strafrecht versöhnen wollten, was eine heftige Kontroverse ausgelöst hat.) In Bulgarien konzentrierte sich die juristische Seite der Vergangenheitsbewältigung auf den ehemaligen Staats- und Parteichef Todor Shiwkow, der unter dem Tatvorwurf der Begünstigung angeklagt und nach einem mehrwöchigen Prozess freigesprochen wurde.

Das Modell: Wahrheit und Sühne durch Strafverfolgung

In den Ländern Osteuropas wurde - so könnte man sagen - alles in allem zumeist nur die "Spitze des Eisberges" verfolgt, wie das im Übrigen auch auf Länder wie Argentinien, Griechenland, Portugal oder Südkorea zutraf, in denen es nach dem Fall von Militärdiktaturen Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen schwerer Menschenrechtsverletzungen gab, wobei in Argentinien und Südkorea die Verurteilten bald in den Genuss von Amnestie und Begnadigungen kamen.

In Transformationsstaaten wie Russland, Weißrussland, der Ukraine oder auch Georgien fand hingegen keinerlei Strafverfolgung statt. Ein "echter Schlussstrich", wie er auch in Spanien nach dem Ende der Ära Franco oder nach dem Abgang der Militärdiktaturen in Chile, Brasilien und Uruguay gezogen wurde. (Möglicherweise rechtfertigt die begonnene strafrechtliche Verfolgung Pinochets für Chile bald ein anderes Urteil.) Einen besonderen Weg ging und geht Südafrika. Hier steht die Versöhnung zwischen Opfern und Tätern im Mittelpunkt. Wenn die Täter bereit waren, aktiv an einer Aufklärung mitzuwirken, erfolgte ein von "Wahrheitskommissionen" ausgesprochener Strafverzicht. Andernfalls wurde zum Mittel der Strafverfolgung gegriffen. Auch in Guatemala will man eher den Weg der Aufklärung und Aussöhnung gehen als den einer Verfolgung der Täter.

Warum nun wurde in Deutschland im Unterschied zu all diesen Ländern kein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen? Warum fand selbst eine Aussöhnung nicht statt - oder warum wurde keineswegs nur die "Spitze des Eisberges" verfolgt, sondern fast eine "flächendeckende" Strafverfolgung praktiziert? War es völlig undenkbar, dass Deutschland anderen Ländern folgte und es bei der Wiedergutmachung des Unrechts bewenden ließ? Hätte man sich nicht auf die strafrechtliche Verfolgung schwersten Unrechts beschränken sollen?

Der Rechtshistoriker Uwe Wesel gibt deutschem Perfektionismus und einem Übereifer der Justiz die Schuld für den "deutschen Sonderweg". Eine Erklärung, die nur auf den ersten Blick überzeugt. Schließlich vollzog sich die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit nicht völlig losgelöst von der Politik und ihren Akteuren, nicht unbeeinflusst von politischen Entscheidungsprozessen und Einflussstrukturen. Der Historiker Norbert Frei verwendet dafür den Begriff "Vergangenheitspolitik", wenn auch für eine ganz andere historische Situation: für die Anfänge der Bundesrepublik und den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Im Hinblick auf die DDR-Vergangenheit waren sich die Akteure der "Vergangenheitspolitik" - besonders die Parlamentarier - nach anfänglichem Zögern und mit Ausnahme der PDS weitgehend einig: Die Vergangenheit mit den Mitteln des Rechts und der Justiz so gründlich wie möglich aufzuarbeiten, zu bewältigen, zu ahnden. Der englische Historiker Timothy Garton Ash spricht deshalb von der deutschen Politik als "einer systematischen, beispiellos umfassenden Aufarbeitung der Vergangenheit".

Dabei machte sich diese deutsche "Vergangenheitspolitik" unter Berufung auf die Opfer seit 1990 vor allem zwei Ziele zu eigen: Herstellung von Gerechtigkeit und Aufklärung der Wahrheit durch Strafprozesse. Auch in Deutschland galt die Formel: "Ohne Wahrheit gibt es keine Versöhnung". Die Opfer betonten, nicht Rache sei das Ziel der Strafverfolgung, sondern Aufklärung der Wahrheit. Vergebung wurde für die Fälle angekündigt, bei denen die Wahrheit auf den Tisch käme und Täter sich reumütig verhielten. So hatte man kein Problem damit, dass etwa Günter Schabowski begnadigt wurde. Wer sich dagegen wie Egon Krenz "uneinsichtig" zeigte, konnte nicht auf Gnade hoffen. Das aber bedeutete: "Erst Bestrafung und Sühne; Vergebung dann vielleicht später" - ein an Vergeltung ausgerichtetes Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis, das bei weitem nicht in allen Rechtskulturen gilt.

Das Gegenmodell: Wahrheit und Aussöhnung unter Strafverzicht

Wenn doch einmal die Alternative Südafrika für die deutschen Verhältnisse ins Gespräch gebracht wurde, stieß das überwiegend auf Ablehnung; so bei Joachim Gauck in einem Streitgespräch mit dem Vorsitzenden der Wahrheits- und Versöhnungskommission, dem südafrikanischen Erzbischof Desmond Tutu. So aber auch durch Proteste von Opfern im Gerichtssaal, als ein Richter es in einem Rechtsbeugungsprozess gegen ehemalige DDR-Richter und Staatsanwälte bedauerte, dass es in Deutschland keine südafrikanischen Wahrheitskommissionen gäbe. Nur vereinzelt konnten sich Vertreter der früheren Bürgerrechtsbewegung der DDR (Friedrich Schorlemmer beispielsweise) das Modell "Wahrheit und Aussöhnung unter Strafverzicht" vorstellen.

Das Beispiel Südafrika zeigt, dass unterschiedliche kulturelle und religiöse Hintergründe bei der Versöhnungsbereitschaft der Opfer eine große Rolle spielen können. Sie verbindet sich mit einem Verständnis von Gerechtigkeit, die nicht mit Vergeltung gleichsetzt wird und Versöhnungsbereitschaft nicht erst dann signalisiert, wenn es zu strafrechtlicher Verurteilung gekommen ist. Doch auch für eine deutsche "Vergangenheitspolitik" hätte es nicht zwangsläufig heißen müssen: auf Versöhnung verzichten. Hatte nicht Imanuel Kant festgestellt, dass mit dem Friedensschluss auch die Amnestie verbunden sei?

(*) Staatschef 1985 bis 1990

Nächste Folge: Deutscher Sonderweg - Teil II: Eine logische und "systemimmanente" Variante - doch auch vernünftig und notwendig?

Privatdozent Dr. Jörg Arnold ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.

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