Der „Jurypräsident“ hat sich gerade nochmal per Agentur-Interview zu Wort gemeldet. Es sei schon irgendwie irgendwas nicht in Ordnung in Aserbaidschan, lässt sich Thomas Ds Meinung verstehen, und man müsse da schon diskutieren – nur die Künstler, die sollten doch bitte außen vor bleiben. Sie seien ja per Definition schon Botschafter der „Gleichstellung aller Menschen“. Ein Boykott des ESC in Baku würde denn auch nicht passen: „Da wendet man sich ab und wäscht sich praktisch die Hände rein und sagt, wir haben damit nichts zu tun’“. Der Eurovision Song Contest findet in Aserbaidschan statt, einem Land, in dem es bekanntermaßen um Demokratie und Pressefreiheit nicht gut bestellt ist. Der Platz für die schicke neue Arena des ESC in Baku wurde mit Zwangsräumungen geschaffen.
Es sind gerade schwierige Zeiten für die reine Morallehre: Formel 1 in Bahrain, Fußball Europameisterschaften in der Ukraine und eben der ESC als Vorzeigefest eines autokratischen Staates. Diskutiert wird, ob die mit solchen Ereignissen verbundene mediale Aufmerksamkeit – und der ESC liefert dabei ganz gewiss ein sonst selten erreichtes Maß – eher der Selbstdarstellung des Regimes nützt oder das Augenmerk gerade auf die Misslichkeiten lenkt und gleichzeitig den Kontakt des Volkes mit dem freien Westen ermöglicht und so zur Öffnung beiträgt. Ein Boykott – so die Folge-Argumentation, die auch Thomas D aufgreift – würde diese Effekte beeinträchtigen.
Steve van Zandt sah das 1985 ganz anders, als er „Sun City“ schrieb und – es war die hohe Zeit des All-Star-Engagements – ein sehr illustres und im Vergleich zur musikalischen Konkurrenz à la „We Are The World“ auch ziemlich cooles Aufgebot an Musikern zusammentrommelte.
Die Botschaft: Es ist unanständig, in Sun City zu spielen. Sun City war damals ein förmlich exterritoriales und deshalb an den UN-Sanktionen vorbei agierendes Glücksspiel-Resort in Südafrika. Die Ächtung der Apartheid stand damals nicht bei allen Popstars auf der To-do-Liste. Gerade Sun City wollte mit spektakulären Events punkten und zahlte horrende Summen, um Musiker wie Queen, Rod Stewart, Ray Charles, Julio Iglesias oder auch Boney M. zu ködern. „You can't buy me, I don't care what you pay. Don't ask me Sun City because I ain't gonna play“, war die musikalische Antwort von Steve van Zandt und seinen Kollegen, die es damit schafften einen moralischen Imperativ zu definieren, der sich – schon ob seines weltweiten Charterfolges – nicht ohne drastischen Image-Verlust ignorieren ließ. Obendrein brachte dieser Boykott-Aufruf weitaus mehr an internationaler Aufmerksamkeit für die Zustände im Apartheid-Staat ein.
Dass es mit der Moral auch damals so einfach nicht war, zeigt das Beispiel Bruce Springsteen. Der war einer der Stars bei Artists United Against Apartheid, so hieß zeitgemäß etwas sperrig das Projekt seines E-Street-Gitarristen Van Zandt. Die DDR dürfte ihm nicht ganz so schändlich vorgekommen sein wie Südafrika, drei Jahre nach „Sun City“ lieferte er dort das spektakulärste Konzert-Event der kompletten DDR-Historie ab. Geschätzte 200.000 Besucher waren vor Ort, das DDR-Fernsehen übertrug vier Stunden proletarisch durchhauchten Rock born in USA. Natürlich war dieses Konzert – wie auch die von Bob Dylan, den Rainbirds oder Depeche Mode in dieser DDR-Endzeit-Ära – nicht als Veranstaltung gegen das System gedacht. Im Gegenteil: „Rockkonzerte mit zehntausenden Besuchern haben sich als wirksame Form der massenpolitischen Arbeit der FDJ unter der Jugend der DDR bewährt“ lautete die Kulturpolitik-Route der SED der Stunde. Ihre Einschätzung, welche Musiker dem Arbeiter- und Bauernstaat zugetan zu sein schienen, führte zu einigen denkwürdigen Momenten jugendlicher Sozialisation. (Im Falle von Harry Belafonte und dem von ihm produzierten frühen HipHop-Film Beat Street sogar zur explosionsartigen Entstehung einer kompletten Jugendkultur.)
Wie zweischneidig der Propaganda-Effekt solcher Solidaritätsadressen war, konnte man bei Billy Bragg sehen. In den wilden Zeiten des britischen Bergarbeiterstreiks – zumindest aus Sicht der DDR-Kulturpolitik – zum verlässlichen Protestsänger gereift, wurde er hochoffiziös zum FDJ Liedersommer 1986 verpflichtet. Später tourte er nochmal durch die inzwischen wirklich brodelnde DDR, allerdings mit Gorbatschow-T-Shirt und flammenden Reden über Perestroika und individuelle Freiheit, was von der Staatsmacht ganz sicher so nicht eingeplant war.
Dass Roman Lob, Thomas Ds Schützling und deutscher Vertreter beim ESC, oder irgendein anderer der Kandidaten auf der Bühne über Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan reden wird, ist nicht anzunehmen. Der ESC lebt in einer völlig eigenen Galaxie, in der das Singen von Schlagern nicht nur in rechtsstaatlich zweifelhaften Staaten als eine Art nationale Aufgabe angesehen wird, als neuzeitliche – wir erinnern uns – „wirksame Form der massenpolitischen Arbeit“. Vielleicht erfährt man tatsächlich in der ARD noch Genaueres über die politischen Zustände im Land, das ist zumindest die wohl eher notgedrungen gegebene Zusage. Am Charakter der Veranstaltung als „Seht her, wir in Aserbaidschan können was und es ist alles ganz toll hier!“ ändert das nichts. Wahrscheinlich ist es wirklich ein bisschen zu viel von einem Nachwuchs-Sänger verlangt, seine eben startende Karriere einem hehren und obendrein ziemlich vagen Ideal von Anstand zu opfern. Für die ARD gilt das nicht, für Thomas D auch nicht. Fast wünschte man sich, dass in Baku Weißrussland gewinnt. Das ist ein Land, in dem der Diktator im Zweifelsfall lieber höchstselbst aussucht, wer zum ESC fahren darf. Und Alexander Lukaschenko würde sich bestimmt freuen, den nächsten Grand Prix austragen zu dürfen. Mal sehen, wer dann dort auftreten möchte.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.