Es steht gleich ganz groß ganz oben: „Draußen ist es kalt und regnerisch? Dann macht es euch drinnen lieber mit unserer Indie Playlist gemütlich!“ Schön, dass man wieder mal daran erinnert wird, wie es um „Indie“ steht. Gleich daneben gibt es denn auch prompt das neue Video von Avril Lavigne und Chad Kroeger, dem Frontmann der Band Nickelback. Die sind das von musikverständigen Menschen am liebsten gehasste Musiker-Promipaar der Welt und nach Bryan Adams praktisch im Alleingang für den prinzipiell verheerenden Ruf Kanadas in der Musikwelt verantwortlich. Es passt also alles zusammen, zumindest für erklärte Popkulturpessimisten. Willkommen bei Vevo. Mit einigem Tamtam ist das Musikvideoportal vor kurzem in Deutschland gestartet worden.
Dass man sich um die engen Kriterien von Geschmacks-Mäklern nicht schert, liegt auf der Hand. Denn es geht selbstredend ums Geschäft und in dem spielen Musikvideos wieder eine zunehmende Rolle. Das sah vor gar nicht mal langer Zeit noch ganz anders aus. Die angestammten Musik-Fernsehsender – früher mächtige Institutionen der Meinungsbildung und von den großen Plattenfirmen ebenso verhätschelt, wie ob ihrer gnadenlosen Aussieberei gehasst – konnten mit den unterhalb der Messbarkeit liegenden Einschalt-Quoten, die mit Musikvideos gemacht wurden, nicht mehr leben. Klassisches Musikclip-Fernsehen gibt es heute nur noch in den tieferen Sphären der digitalen Satelliten- und Kabelbelegungen. Damit verlor auch das Musikvideo an sich seinen Nimbus als das Marketing-Tool mit allerhöchster Priorität. Das war nicht unbedingt eine schlechte Entwicklung, eröffneten sich doch so einerseits neue Freiräume für einen kreativeren, weniger massentauglichen, künstlerischeren Zugang. Und andererseits hatten sich gerade kleine Bands sehr schnell damit angefreundet, dass man auch ohne die bis dato selbst im Billigst-Segment immer noch extraordinär hohen Kosten einer Clip-Produktion auskommen konnte. Ein bisschen Know-how, ordentlich Selbstausbeutung aller Beteiligten und eine gute Idee reichten mitunter um mithalten zu können.
Jetzt schwingt das Pendel allerdings wieder zurück. Das liegt an den generellen Rahmenbedingungen der Musiklandschaft, deren Big Player ihre in den letzten Jahren zwischenzeitlich etwas ins Wanken geratene Lufthoheit mit aller Macht neu gefestigt haben. Knapp 80 Prozent aller Umsätze mit Musik machen immer noch die Majors, die im Zweifelsfall auch finanziell in der Lage sind, ihre Produkte in den Markt zu pushen. Seit der technologische Fortschritt und das wieder fortschrittsgläubigere Investitionsklima ausreichend Internet-Bandbreite und Venture-Kapital zur Verfügung gestellt haben, wird kräftig herumprobiert. Dazu braucht es „hochwertigen Content“.
Rechtzeitig erkannt haben das die Gründer von tape.tv, die im Moment in Deutschland der Inbegriff von modernem Musik-TV im Internet sind. tape.tv agiert zwar auch als klassisches Musikvideoportal, hat also die volle Bandbreite an aktuellen Musikclips im Angebot. 45.000 sollen es derzeit sein. Den guten Namen hat man sich allerdings vor allem mit einem Schwerpunkt auf „alternative“ Musik, einem guten Händchen für deutsche Newcomer und selbst produzierten Formaten gefunden. Der Trick: Die lassen sich hervorragend verkaufen. Wer „authentischen“ Content bietet, ist bei den großen Online-Medien à la Spiegel Online ebenso gern gesehen, wie bei den öffentlich-rechtlichen Kultur-Spartenkanälen. Ausgetauscht wird hier nicht nur Geld, sondern vor allem auch Aufmerksamkeit, die sich letztendlich in Besucherzahlen niederschlägt. Marktführer ist tape.tv so auch in Sachen „Videopremiere“ und „Aktion“ geworden. Wer als deutsche Band etwas auf sich hält, versucht, einen Deal mit tape.tv zu machen. Je größer die Band, desto einfacher ist das natürlich. Aber – und das macht einen Gutteil des Images aus – es gibt immer einen redaktionellen Blick, ob der Deal auch zum Profil als Plattform für wie auch immer im Einzelfall definierte „gute Musik“ passt.
Also alles gut? Das kann man auch anders sehen. „Branded Entertainment“ nennt tape.tv sein Erfolgsmodell, das hat wenig mit Musik, viel mit Marketing zu tun. Sehr viel konsequenter als nahezu alle anderen seriösen Webportale ist man auch, wenn es um die Maximierung der Werbeeinnahmen geht. Dafür wurde mit „360° Motion Ad“ eine ganz besonders perfide Werbeoberfläche entwickelt, die selbst im Vollbildmodus brutal um Aufmerksamkeit heischt. „Das Ziel ist klar: Eine Rundum-Inszenierung der Markenbotschaft. … Durch individuelle Call to Actions ist eine klare User-Navigation realisierbar“, heißt das im anbiedernden Werbeagenturen-Sprech. Dazu passt, dass man soeben Amen übernommen hat. Die waren einige Zeit das mit Millionen gehätschelte Berliner Vorzeige-Start-Up. Seinen Hype mit einer auch nur annähernd einleuchtenden Geschäftsidee zu verbinden, hat Amen nie geschafft. Trotzdem ist der Boom ungebrochen: Wer sich in den letzten zwei, drei Jahren auf den einschlägigen Kongressen der Musikindustrie herumtrieb, wurde mit mehr oder weniger idiotisch anmutenden Start-Up-Präsentationen reichlich bedient. Bewegung ist also drin, im Markt. Um Musik geht es da meist nur noch als Content-Segment.
Dass der deutsche Musikmarkt immer noch interessant ist, beweist auch Vevo, das normalerweise – also praktisch überall anderswo als in Deutschland – ein riesiger Kanal innerhalb von YouTube ist. Das funktioniert hier dank des immer noch ungeklärten Streits von YouTube (sprich: Besitzer Google) mit der GEMA nicht. Sich außerhalb von YouTube mit der GEMA zu einigen und es allein zu versuchen, ist die logische Konsequenz. Ob das in zwei Jahren überhaupt noch finanzierbar ist, steht dabei auf einem anderen Blatt. Dann könnte der hier vermutlich greifende gesonderte GEMA-Einführungstarif für Neugründungen auslaufen. („Vermutlich“ und generell den Konjunktiv muss man übrigens deshalb verwenden, weil es wie in allen vergleichbaren Fällen eine große Geheimniskrämerei um die letztendlich wirklich geltenden Regelungen und Vereinbarungen gibt.)
An der immer noch absoluten weltweiten Vorherrschaft von YouTube gerade bei Jugendlichen, ändert das noch lange nichts, obwohl hier die sonst so viel gerühmte Haupttugend des Google-Mutterkonzerns komplett zu versagen scheint. Zwar gilt YouTube als beliebtestes Musikarchiv der Welt. Nur: Etwas zu finden, ist oft genug unglaublich schwer. Die pauschale Stichwortsuche würfelt gern alles möglich aus, nur nicht das Original-Video, das man gesucht hat. Stattdessen darf man sich vielleicht durch unzählige Coverversionen, mediokre Wackelbilder von Konzerten oder reine Audio-Uploads mit Standbild wühlen. Werbung gibt’s natürlich auch noch reichlich obendrauf.
Trotzdem wackelt der Thron noch lange nicht. Wer heutzutage einen weltweiten Hit landen will, kommt ohne die Währung „YouTube Klick“ nicht mehr aus. „YouTube Star“ ist eine eigene Genre-Beschreibung geworden und wird mit Major-Plattendeals belohnt. Und das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange: Diesen Donnerstag starten die „YouTube Music Awards“. Gewählt werden die Preisträger streng nach YouTube-Logik von den Usern, nominiert werden sollen jene Künstler und Videos, die in den letzten Jahren ohnehin am häufigsten angeklickt und geteilt wurden. Der Sinn? Einfach noch mehr Klicks.
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