Hach ja, die Nationalhymne – wenn Momente irgendwie national bedeutsam und erhebend ausfallen sollen, wird sie gern genommen. Ein gut eingeschmiertes Ritual ist das meist, routinemäßig abgespult vor allem im Sport. Problematisch wird’s hingegen oft, wenn die Würde des Augenblicks spontan herbeigesungen werden soll. Noch ein bisschen peinlicher ist das Komplettversagen des Auditoriums, wenn es sich – sagen wir mal – „deutsche Leitkultur“ aufs Banner geschrieben hat; und zwar buchstäblich.
In Leipzig zum Beispiel, zur ersten Legida-Demonstration. Selbst die als Gegendemonstranten im Umfeld zahlreich anwesenden expliziten Nationalhymnen-Hasser konnten sich einer gewissen Verblüffung nicht enthalten. Das klang so, als ob sie selbst eine Parodie aufführen würden. Kritik von links daran ist indes problematisch, schließlich sollte man sich dort über jede nicht korrekt gesungene Hymne freuen. Gerade in Leipzig, wo die Kulisse des Zentralstadion-Vorplatzes nicht umsonst an eine Art Nürnberger Parteitagsgelände in klein erinnert, die Demonstranten viele Flaggen schwenken und die von „Gutmenschen“ verdunkelten Fassaden mit ihren Taschenlampen gern im Stile von Flakscheinwerfern ableuchten. Riefenstahl-Atmosphäre also, wenn auch für Arme – aber sogar das passt ja irgendwie in den Osten gerade.
Apropos Riefenstahl-Ästhetik: Rammstein mögen viele derjenigen, die einem auf den üblichen Facebookpages zum Thema XY-gida als notorische Pro-Begeisterte auffallen. Die Band also, deren Herz zwar erklärtermaßen links schlägt, die aber ihr Gesamtkunstwerk so weit getrieben hat, dass die ironische Brechung bei Massen nicht mehr funktioniert. Was wiederum der Band selbst den Status als Megastars eingebracht hat. Für den Popkritiker sind Rammstein spätestens bei Konzerten ein Problem, auch wenn man das Werk an sich sogar schätzt. Sie ziehen nämlich ein Publikum an, mit dessen Kulturkreis man (außerhalb des alljährlichen Dschungel-Guckens) gemeinhin keine Überschneidungen schätzt. Entschieden wird das in Nullkommanix vor Ort; anhand von popkulturellen Kriterien. Dieses Instrumentarium hilft auch bei der Einschätzung der „besorgten Bürger“. Besser jedenfalls, als es bisher die empirische Soziologie zu leisten vermochte, deren quantitative Betrachtungsweise schon daran scheitert, dass gerade die Extremen sich der Selbstauskunft verweigern. Aber reden müssen die Allermeisten gar nicht, um erkennen zu lassen, wes Geistes Kind sie sind. Für eine erste Grobeinschätzung reichen tatsächlich Äußerlichkeiten.
Popkulturkritik basiert auf ästhetischen Maßstäben, die gerade die Äußerlichkeit, das Erscheinungsbild, das Image und die ausgestellten Vorlieben entscheidend in das Urteil einbeziehen. Kleider machen Leute – in der Popkultur ist das ein unverzichtbares Axiom. Zuallererst das Erscheinungsbild sichert eigene Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung zu anderen gleichermaßen. Es ist die Uniform, die Freund und Feind erkennbar macht. Am Anfang der Entwicklung einer Subkultur sind das allerdings für Außenstehende kaum zu entziffernde, zum Teil auch schwer auseinanderzuhaltende Codes. Bis sie der Mainstream aufgreift und zumindest wesentliche stilistische Teile davon exploitativ ausstellt; als „Exoten“ in Filmen oder Fernsehserien, als Mode-Trend, immer natürlich auch als Geschäftsfeld. Die ständige Folge, um sich diesem Kreislauf zu entziehen, sind Verfeinerung, immer weiter getriebene Subdifferenzierung, noch stärkere Codierung – mit dem Ziel der Nichtmehrkopierbarkeit oder gar Nichtmehrerkennbarkeit außerhalb seinesgleichen.
Auch die rechten Subkulturen sind davon nicht ausgenommen und es gilt inzwischen als eine Art Standardwarnung, dass sie sich nicht mehr ohne Weiteres am Äußeren identifizieren lassen. Jedenfalls nicht ohne den geübten Blick. Was wiederum erklären könnte, dass sich so viele „Normalbürger“ angeblich nicht bewusst sind, mit wem sie da in Dresden oder gar Leipzig (dessen Legida-Organisatoren noch offensichtlicher aggressiv rechtsradikal positioniert sind). Nur: das ist natürlich im konkreten Fall ausgemachter Unsinn, selbst wenn man den Leuten zu Gute hält, dass sie dämlich genug sind, eindeutige Neonazi-Rhetorik à la „Kriegsschuldkult“ oder „Volksverräter“ – also weit jenseits der allseits bekannten „Lügenpresse“ – nicht zuordnen zu können. Denn die zahlreich anwesenden Nazis sind nicht nur für aktuelle Subkultur-Code-Spezialisten ganz einfach auszumachen: Sie sehen ganz genau so aus, wie man sich noch in den Neunzigern Nazis vorgestellt hat.
Es hat sich wohl bei den braunen Provinzlern im Osten noch nicht herumgesprochen, dass man jetzt sogar als Nazi halbwegs hip aussehen sollte. Auch nicht, dass zum Beispiel die vor Zeiten wegen ihrer Buchstabenkombination nur in Deutschland für NS-Missbrauch taugliche Londoner Sportklamottenmarke Lonsdale jetzt ausgerechnet die Antifa sponsert, deren Lautsprecherbus in Leipzig ein genau dafür gedachtes Geschenk von Lonsdale ist. Auch Hooligans sehen auf diesen Demos im Osten ganz genau so aus, wie man sich Hooligans halt so vorstellt: mit stierdicken Nacken und fiesen Fressen. Zu übersehen sind die beiden Gruppen beim besten Willen nicht. Der Rest – in Leipzig über den Daumen drei Viertel der Teilnehmer der ersten Legida-Demo – sind eben die oft beschworenen „besorgten Bürger“. Die vielen, vielen Älteren unter ihnen haben „Nadelstreifen“ maximal im Fernsehen gesehen.
Es dominieren die vieltaschigen Westen und Helmut-Schmidt-Mützen. Die trifft man nicht auf Facebook aber in der Straßenbahn oder im Supermarkt, wo sie sich ungeniert darüber unterhalten, dass sie ja doch diese vielen Ausländer nicht so ganz gut finden. Die Jüngeren sind jene Mandys und Kevins, die man mit ihren schräg geschnittenen Ponys und Madonna Piercings oder den Tribal-Tattoos auf McFit-gestählten Muskeln jedes Wochenende in Massen in der nächsten Großraumdisco treffen kann.
Was die mögen, geben sie gern preis, nicht auf dem Demo-Platz, aber eben in ihren Facebookprofilen. Keine Nazis sind das – Nein! – aber sie mögen in statistisch auffälliger Zahl die zumindest rechtsaffinen Onkelz, Frei.Wild und Krawallbrüder. Gern sind sie Fans von Dynamo Dresden oder Lok Leipzig (also ganz genau den Ost-Vereinen, die wegen ihrer rechten Hools geradezu berühmt sind). Auch oft im Rennen: Gothic, Metal, und Kirmes-Techno. Frauen mögen überdies oft Hunde oder Katzen, bei Männern stößt man auf verblüffend viele prollige Erotikseiten, von denen man bisher gar nicht wusste, dass es auch die auf Facebook reichlich gibt.
Interessant sind auch die Argumentationsmuster, vielfältig zu finden in jedem Kommentar-Thread zum Thema. Die gleichen aufs Haar jenen, die man aus den jahrelang geführten Onkelz- und Frei-Wild-Diskussionen kennt: „Patriotismus ist nicht gleich rechts“, „ich bin kein Nazi, im Gegenteil, die Linken sind die neuen Nazis“, „ihr habt ja keine Ahnung, lest erst mal die Biografie/die Texte/das Positionspapier“, „ihr seid ja nur neidisch, wir sind viele/mehr/das Volk“ (bedenkenlos im gleichen Zug: „eure Zahlen sind falsch“ und/oder „ihr unterdrückt unsere Minderheit“). Argumentativ ist solchen Stimmungslagen nicht beizukommen, eine Erfahrung, die Popkultur-Beobachter schon lange vor Politikern machen mussten. „Dialog“ ist also sinnlos. Das müsste jetzt nur noch irgendjemand der Politik erklären.
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