Am Ende, ganz am Ende, 2011, sind sie faktisch eben doch nur noch eine von unzähligen Bands, die einen Deal haben, der erfüllt werden will. Berufsmusiker. Schließlich müssen Rechnungen bezahlt werden und das Schulgeld für die Tochter. Die Konzerte sind groß, sehr groß, Festivals in Südamerika, da stimmt die Gage. Nur die Beziehung, die stimmt nicht mehr. Die Auflösung von Sonic Youth ist schon bekannt gegeben, die Ehe von Kim Gordon und Thurston Moore, dem internationalen „Alternative Rock“-Vorzeigepaar überhaupt, ging vorher schon in die Brüche. Und wie sich die Sicherung des Lebensunterhaltes anfühlt, wenn man auf der Bühne neben dem Ex steht, lässt sich sehr eindrücklich in Kim Gordons eben erschienener Biografie „Girl In A Band“ nachlesen. Desillusionierend ist die in vielerlei Hinsicht, vor allem aber weil sie eine entscheidende Grundregel jeden Rockstartums verletzt: nicht hinter den Vorhang blicken lassen. Sich nicht vermenschlichen lassen. Nicht den Mythos der coolsten Rockband des Planeten dafür aufgeben, ein bisschen dreckige Wäsche zu waschen.
Ein Vierteljahrhundert früher sind Sonic Youth übermenschlich cool. So unantastbar, dass sie sogar ohne größeren Image-Schaden und ohne Substanzverlust bei einem Major veröffentlichen können. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit in einer Ära, in der die unverbrüchliche Feindschaft zum System des „corporate rock“ zum grundlegenden Konsens einer Musikszene gehört, die eine Punk-Sozialisierung und acht Jahre Reagan hinter sich hat. Der Untergrund ist mächtiger als je zuvor, hat seine eigene nachhaltige Infrastruktur aufgebaut, sein eigenes Publikum, seine eigenen Stars. Sonic Youth sind schon damals eine Institution, haben etliche Alben veröffentlicht. Das bis dato letzte, „Daydream Nation“ von 1988, zählt im allgemeinen Verständnis als bis heute gültiger Meilenstein des eben etablierten Noiserock. Die Kritiken sind breitflächig und durchweg euphorisch. Nur kaufen kann man die Platte kaum, ihr Independent-Label schafft sie einfach nicht in ausreichender Größenordnung in die Läden. Wer eine wirklich flächendeckende Bestückung will, hat letztendlich nur eine Wahl: einen Major-Vertrieb.
Ende Juni 1990 erscheint „Goo“. Mit Major-Vertrag. Das Album ist ein breaking point für die ganze Musikindustrie. Es beweist einerseits, dass man auch als Major-Act nach eigener künstlerischer und geschäftlicher Ägide agieren kann. Wenn man will, wenn man die Nerven hat, wenn man groß und fähig genug ist, um die Bedingungen einigermaßen unter Kontrolle zu behalten. Andererseits, dass man auch als Majorlabel mit allgemein als enorm sperrig geltender Musik ordentlich Geld machen kann. Wenn man nur den Nerv der Zeit trifft. Sonic Youth sind zweifelsfrei der beste Nerv der Zeit – für knapp anderthalb Jahre. Ein Probelauf, der das ganz große Los auch noch selbst vermittelt: Nirvana und „Nevermind“. Sie geben Geffen den Tipp und nehmen kurz vor dem kompletten Wahnsinn die bis dato nur Insidern bekannte Band mit auf Europa-Tour. Dokumentiert ist das in der aus heutiger Sicht herzzerreißenden Tour-Doku „1991: The Year Punk Broke“.
„Alternative Rock“ ist mit einem Schlag ein Riesenthema, alle großen Plattenfirmen schieben unablässig neue Acts nach, mit denen sie mehr oder weniger erfolgreich abstauben können. So gut wie Nirvana sind die wenigsten. So gut wie Sonic Youth ist sowieso niemand. Die Integrität von Sonic Youth selbst bleibt von all dem weitgehend unbeschadet. Musikalisch hingegen hat der Overkill des Grunge auch für sie spürbare Folgen. Mitte der Neunziger klingen sie auf ihre eigene Art „post“, lassen die Lärmwände weg zugunsten von fast schon resigniert-spinnerten, vergleichsweise leisen Stücken mit offenem Ausgang. Es ist die hohe Zeit der Selbsthinterfragung, der betonten Schludrigkeit, der unvollendet wirkenden musikalischen Skizzen. Die Band der Stunde heißt Pavement. So richtig groß werden die nicht mehr, haben nichtsdestotrotz ein weltweites Liebhaber-Potenzial. Das ist der Stand der Dinge nach Nirvana, auch für Sonic Youth. Am Anfang all dessen aber steht „Goo“.
„Oh mein Gott, sie spielen Melodien! Irgendwie.“ Der Rolling Stone fasst zusammen, was Sonic Youth mit „Goo“ auf den Punkt bringen wie nie zuvor: Noise kann auch Pop. Attitude und Hitappeal schließen sich nicht aus. Credibilität und Erfolg gehen zusammen. Mit „Goo“ werden Sonic Youth endgültig zur weltweiten musikalischen Ikone, weit über die bisherigen Grenzen des Musiker-Nerdtums hinaus, trotzdem ganz selbstverständlich dazu gehörend. Ein Konsens für alle mit Geschmack, stilbildend und bis heute hochgradig verehrt. Songs wie der Smasher „Kool Thing“ – die Singleauskopplung lieferte auch den erste High-Budget-Videoclip der Band – mit seinem fast schon obskur anmutenden Dialog zwischen Kim Gordon und Public Enemy-Star-Rapper Chuck D., der verhalten startende und dann mit Noisebreaks konterkarierte Album-Opener „Dirty Boots“ und vor allem das auch inhaltlich verblüffende und immer noch unerreicht wunderschöne „Tunic (Song For Karen)“ sind heute unverzichtbare Bestandteile jeder anständigen Musikbibliothek.
Besser wird Gitarrenmusik in der Folge nie mehr. Das liegt an der exzessiven Ausbeutung des Grungehypes und seinem auf Jahre wirkenden Katzenjammer, am auch technologisch bedingten Aufschwung elektronisch dominierter Musik. Aber vor allem daran, dass es nach „Goo“ kaum noch spannenderes mit Gitarren gespieltes Material geben kann. Daran, dass vor genau 25 Jahren Rockmusik im Prinzip alles gesagt hat.
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