Masse frisst Klasse

Ton & Text Bald nur noch Festspiele für Formatnazis und Besserverdiener? Der Record Store Day krankt zunehmend an seinem Erfolg
Masse frisst Klasse

Foto: imagebroker/ imago

Man weiß es ja eigentlich vorher. Am Ende bekommt man all die Platten natürlich nicht, die man sich ausgeguckt hat. Dafür ist es ein bisschen wie beim Kindergeburtstag; da muss man auch durch, obwohl die Blagen ohne Ende nerven. Also sich mit Typen um die Regale drängeln, mit denen man gemeinhin ums Verrecken nicht seine Intimsphäre teilen möchte. Aber auch das gehört halt zum Nimbus. Es ist für viele Plattenläden der umsatzstärkste Tag des Jahres und auch deshalb ein ganz offensichtlich wichtiger Punkt in den Promotion- und Marketingplänen von Plattenfirmen. War ja klar, dass das nicht lange gut gehen kann.

Seit 2007 gibt es den Record Store Day, eben fand er wieder statt. Erfunden wurde der – kurz – RSD als Support für die „kleinen“ Plattenläden, jene Biotope ungehemmten Musik-Nerdtums, die in Zeiten der Information durch das Web, des internationalen Versandhandels oder gar digitalen Vertriebs prinzipiell überflüssig scheinen. So überflüssig wie – aus Sicht von Effektivität und Userfreundlichkeit – die Vinylplatte an sich. Die allerdings erweist sich als durchaus zählebig und erlebt gerade wieder eine gar nicht so kleine Hausse. Zum Erfolg des Record Store Day hat das entscheidend beigetragen – und wird jetzt zum Problem. Das zeigt die Kritik am Konzept des Vinyl-Eventtages, die in diesem Jahr erstmals massiv laut wurde.

Dass die Läden am RSD-Samstag praktisch überlaufen werden, ließe sich dabei auf den ersten Blick noch als Erfolgskriterium interpretieren. Allerdings ist das Frusterlebnis vielleicht irgendwann größer als die Lust aufs neue Vinyl oder die Freude über die Gelegenheit, sehr viel Geld für vergleichsweise wenig Musik auszugeben, weil das Format halt so schön ist. Vinyl gilt heute nicht mehr als „normaler“ Tonträger, sondern als Spielwiese für Sammler, Nostalgiker und Hipster. Vinyl zu kaufen, ist denn auch immer weniger darauf ausgelegt, dass das Handling der Scheiben zwar unbequem, die Lagerung aufwendig und Umzüge die Hölle sind – aber dieser Mehraufwand eben doch dem Hörgenuss angemessen ist. Quasi als Frage des Respekts vor der enthaltenen Musik. Stattdessen wird Vinyl aber als neues Statussymbol gehandhabt. Man kann das schon daran sehen, dass die Platten nach dem Kauf vorrangig nicht mehr in früher unumgänglichen DJ-Taschen verschwinden, sondern in der Plastiktüte des Ladens (oder im passenden Stoffbeutel) passiv aggressiv vorgezeigt werden. Es soll ja auch jeder sehen, dass hier einer mit echtem Vinyl rumrennt.

Tatkräftig bedient wird derlei Coffee-table-book-Appeal durch die Fülle an „besonderen“ Veröffentlichungen: limitiert, in farbigem oder klarem Vinyl, als Picturedisc oder 10-Inch-Box … Hauptsache, irgendwie „wertiger“ als eine schnöde schwarze Platte, die es ja auch tun würde, wenn es einem einfach nur auf die Musik und das vorgeblich einzigartige „Vinylfeeling“ inklusive Knistern ankäme. Dass das breitflächige Abdrängen von Vinyl ins Hochpreissegment inzwischen mehr oder weniger klaglos hingenommen wird, ist bei den Labels selbstverständlich ganz gern gesehen. Steigende Preise bei steigender Nachfrage – so sieht eine Win-win-Situation aus, wenigstens so lange, wie man die Ware knapp und das Interesse hoch halten kann. Der Record Store Day ist dafür ein perfektes Marketingtool. Die großen Plattenfirmen springen fröhlich auf. Ob dabei vielleicht das ganze Schiff untergeht, interessiert sie nicht wirklich. Gerade die kleinen Läden – wir erinnern uns: für die war der RSD eigentlich gedacht – ächzen inzwischen unter einer dramatisch hochgepimpten Flut an RSD-Releases.

Über 600 Veröffentlichungen gab es in diesem Jahr an diesem einen Tag. Etliches hochinteressantes Material, sicher. Und jede Menge Re-Release-Schrott alter Kamellen, „exklusive“ Vorab-Versionen ganz regulär in Kürze fälliger Alben von Drittklasse-Combos, auf Biegen und Brechen irgendwie zusammengeschusterte Sampler – irre viel Zeug also, das kein Mensch mit halbwegs anständigem Geschmack braucht. Gekauft wird davon auch wirklich nur ein Teil. Aber welcher? Das stellt gerade die kleinen Läden vor ein echtes Problem. Denn nur einen Bruchteil des Angebotes kann man sich gegen Vorkasse beim Vertrieb überhaupt ins Regal stellen. Was nicht gleich abverkauft wird, liegt an den 364 Tagen danach meist wie Blei in den Auslagen, dann also, wenn sich keine besinnungslose Käufermasse durch den Laden wühlt. Die wirklich attraktiven Platten bekommt man, wenn überhaupt, nur in minimalen Stückzahlen. Sie wiederum zum regulären Ladenpreis an die erstbesten beliebigen Kunden zu verscherbeln, ist für den Händler nichts anderes als Geldverbrennung. Gut 200 Angebote solcher Schmeckerchen gab es hierzulande zu teilweise gesalzenen Sofortkauf-Preisen schon 24 Stunden nach RSD-Ladenöffnung bei Ebay. Die Zahl steigt seitdem. Schön blöd, wer diesen Reibach nicht gleich selbst macht, während der Laden ansonsten kaum etwas abwirft.

Sogar die Labels selbst haben inzwischen ein Problem mit der schieren Masse an Vinylveröffentlichungen zum Record Store Day: Die Kapazitäten der noch verbliebenen ernstzunehmenden Presswerke sind eh schon gut ausgelastet. Der immer größere Run zum Stichtag im April benötigt extreme Vorlaufzeiten oder verursacht gar – bisher allerdings noch im Ausnahmefall – das komplette Canceln von Bestellungen geringer Auflage. Dass gerade solche Veröffentlichungen vielleicht künstlerisch wertvoll und im Zweifelsfall von vornherein auf eine schwarze Null oder gar als Zuschussgeschäft gerechnet sind, es gegen die schiere Masse der RSD-Konkurrenz jedoch immer schwerer wird, sie an den Mann zu bringen, verschärft die Lage noch. Genau dafür aber war der Record Store Day gedacht.

Kritik lässt sich prompt auch im größeren ideologischen Maßstab begründen, im Rahmen des neu aufgelegten Wettkampfes zwischen „Independents“ und „Majors“. Auf der Suche nach gut funktionierenden Marktnischen haben die Majors das von ihnen ja ursprünglich brutal aus dem Massenmarkt gedrängte Vinyl nun wieder entdeckt und mischen gerade beim Record Store Day energisch mit. Das verschiebt das Angebot in Richtung Backkatalog (also das, was Majors in Hülle und Fülle haben), weg vom aktuellen Musikgeschehen und der vom RSD mitintendierten Attraktivität für Musikliebhaber-Nachfolgegenerationen. Man kann das alles auch drastisch simpel formulieren: Der Record Store Day bietet eigentlich Musik für alte Säcke mit viel Geld. Eine langfristige Zukunftsperspektive für die Vinylplatte und den Plattenladen ist das bestimmt nicht.

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