Natürlich ist das alles quietschbunt, in Neon und Pastell, schräg gestellt und mit Mustern aus der Acid-Hölle gesättigt. Zumindest ein Grafiker hatte da wohl mächtig Spaß und wer sich Augenkrebs holen will, ist hier bestens aufgehoben: ARTEs Programmheft zum Sommer lässt sich nicht lumpen. Denn es geht um die Neunziger. Die waren halt – man weiß das ja schon aus Oliver Geissens „Ultimativer Chartshow“ – grell, schräg und irgendwie crazy. So crazy, wie zum Beispiel H. P. Baxxter, Frontmann der „Kultband“ (so steht das da) Scooter, für dessen Anmoderationen (kein Witz!) das Entstauben der Mute-Taste angeraten scheint, auch wenn sie nicht wirklich helfen wird – es gibt ja auch noch ein Bild.
Alle Jahre
scheint, auch wenn sie nicht wirklich helfen wird – es gibt ja auch noch ein Bild.Alle Jahre wieder widmet ARTE die bei den Sendern prinzipiell narrenfreie Urlaubszeit einem großen Thema. Jetzt ist der „Summer Of The 90s“ dran und sicherheitshalber wird erstmal kein Klischee ausgespart, so abgeschmackt es einem auch erscheinen mag. Nun ist ARTE aber eben nicht RTL und ein bisschen mehr als fröhliches Anekdoten-Austauschen auf dem Sofa und ein paar deutlich angegammelte Bühnen-Protagonisten von der Oldies-Resterampe darf man vom Kultursender schon erwarten. Schon, weil diese so gar nicht ferne Vergangenheit bis heute ziemlich dominierend ist. Das fängt beim über der Hose getragenen Rock an, einem unverzeihlichen Stilverbrechen, das sich bis heute großer Beliebtheit in Indie-Clubs erfreut, und hört mit dem Platzen der Illusion von automatisch nach links gerichteten Jugendkulturen und dem Anfang vom Ende der vorher über Jahrzehnte halbwegs funktionierenden Musikindustrie nicht auf. Um Popmusik dreht sich im Prinzip alles, die war schon immer das Scharnier für die Darstellung von „Zeitgeist“ – ein Begriff, der in den Neunzigern aus der deutschen Sprache heraus in den internationalen Wortschatz übernommen wurde.Interessant und popmusikkulturell dringend aufarbeitungswürdig sind die Neunziger vor allem, weil sie das letzte Jahrzehnt sind, das grundlegende musikalische Innovation zu bieten hatte. Alles danach ist im Wesentlichen nur noch die Weiterausdifferenzierung oder Verschmelzung all dessen, was Popmusik in den Jahrzehnten vorher entwickelt hatte. Bis heute ist ein neuer Evolutionssprung nicht absehbar, die radikale Veränderung der Rahmenbedingungen von Musikproduktion und -rezeption macht ihn auch nicht unbedingt wahrscheinlicher. Die heute – neben dem mehr oder weniger nachhechelnden Mainstream – dominierenden Musikkulturen haben sich in den Neunzigern zur Über-Relevanz aufgeschwungen: HipHop, Techno, Alternative. Sehr grobe Begrifflichkeiten sind das selbstverständlich erstmal, jede für sich ist eine ganz eigene Aufarbeitung und Ausdifferenzierung wert; aber das wäre nun vielleicht doch ein wenig zu viel verlangt für einen Fernsehsender. Immerhin lässt sich einiges im Programm finden, das solche Aspekte aufgreift, einige Entwicklungen nachzuzeichnen versucht. Der – zumindest vorab – im Holzhammer-Gestus bemühte „Kultfaktor“ ist da allerdings eher hinderlich.Geschuldet ist das sicher einer fehlenden Distanz, so sehr von Jugenderinnerungen geprägt scheint die Reihe – was wiederum eine ganz eigene Innenlogik hat, schließlich sind es genau die Teens der Neunziger, die später „irgendwas mit Medien“ gelernt haben. Wie mitunter unzurechnungsfähig im ästhetischen Urteil diese heute Mittdreißiger auch in ihren ansonsten kulturell makelloser gebildeten Teilen sind, erfährt man schnell, wenn sich die Backstreet Boys mal wieder reunieren oder irgendwo Eurodance läuft. Der ist so etwas wie eine zentrale Kategorie des „Summer Of The 90s“ – schon weil man, wenn auch mit etwas Mühe, den moderierenden Baxxter dort hineinquetschen kann. Gerade Eurodance aber ist auch ein schönes, weil spannendes Thema, bei dem man viel ausleuchten kann, was man über Popmusik wissen sollte: über ihre Chartmechanismen, Produktionsbedingungen, Trendzyklen. Oder darüber, wie man es schaffen kann, auch mitten im breitesten Mainstream zeitlos beständige Popkunst zu schaffen. Wofür man allerdings differenzieren können muss; sagen wir mal zwischen den Großtaten von Snap!, Rozalla oder 2 Unlimited und dem Schrott von La Bouche, Captain Jack oder Vengaboys – beziehungsweise der Produzententeams hinter den buchstäblich austauschbaren Protagonisten.Unverzichtbar für eine Beschäftigung mit den Neunzigern ist selbstredend auch der mit den Jahren einen immer größeren Schatten werfende Posterboy des Selbstzweifels. Ohne Kurt Cobain geht gar nichts, wobei es interessant wäre, genauer zu erforschen, warum gerade die eher glattgebügelten Momente seines durch und durch ausgeleuchteten Lebens heute immer wieder gern hervorgekramt werden. Zum Beispiel Nirvanas „MTV Unplugged“, musikalisch notgedrungen enorm begrenzt und sowohl der anarchischen Wucht der frühen Jahre entledigt als auch der zunehmend sperrigen Erfolgsverweigerung des Spätwerks. MTV selbst ist ein Thema für sich. Kaum vorstellbar ist heute noch, wie wirkmächtig der Musiksender in seinen großen Zeiten war, bevor er sich hierzulande vom aggressiv verhaltensauffälligen VIVA in eine Qualitätsabwärtsspirale zwingen ließ, die am Ende das Musikfernsehen im Ganzen in den Abgrund gerissen hat. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet die Kölner Niedrig-Niveauer mit einigen wenigen Jahren VIVA II noch schnell aufzeigten, wie man das eigentlich auch gut machen könnte. Abgesehen natürlich von der unverzeihlichen Kleiderordnung. Ausgerechnet die aber hat überlebt. Na danke, Charlotte Roche!