The World Is Full Of Noise Yeah

Ton & Text So anti Rock, wie es mit lautestmöglichen Gitarren nur geht, und immer noch absolut einzigartig: My Bloody Valentine haben nach 22 Jahren ein neues Album veröffentlicht
The World Is Full Of Noise Yeah

Es könne noch zwei oder drei Tage dauern, dann wäre das neue Album da. So was sagt man eigentlich nicht mal eben nebenbei zwischen zwei Songs hin, wenn man das erste Konzert seit gut drei Jahren spielt. Kevin Shields hat es trotzdem getan, eine kleine Twitter-Hysterie ausgelöst – und Wort gehalten. Fast zumindest, es hat dann doch noch eine ganze Woche gedauert. 22 Jahre nach „Loveless“ gibt es nun also tatsächlich jenen sagenumwobenen und mindestens seit letztem Jahr fest versprochenen Nachfolger zu einem der – und da muss man sich nicht weit aus dem Fenster lehnen – faszinierendsten Alben der Popgeschichte. Einfach so auf der Webseite kann man „m b v“ das dritte Album der My Bloody Valentine kaufen, im Vergleich zu den gängigen Downloadplattformen billig ist die Sache nicht – aber wer hier ans Sparen denkt, hat bei My Bloody Valentine sowieso nichts verloren.

Noch eine Reunion, noch ein Retromania-Beweis, noch eine Band, die endlich die auch zählbare Ernte früheren Kultstaus einfahren möchte? Nicht ganz. Denn weder My Bloody Valentine und ihr Opus Magnum „Loveless“ aus dem eh schon überbordenden 1991, noch Shoegaze, die ganze Musikrichtung, als deren Nonplusultra sie gelten, lassen sich so einfach wegerklären. Nur eine schmale Nische war Shoegaze schon in seiner kurzen Blütezeit Anfang der Neunziger. „The world is full of noise yeah, I hear it all the time“ sangen Slowdive 1993, da war alles schon fast wieder vorbei, ihr Album „Souvlaki“ war der praktisch letzte Meilenstein des Genres vor dem Verschwinden in die Sphären eines fernen Kultes, von dem Zeitgenossen seitdem nicht ohne feuchte Augen schwärmen können. Für die Massen war Shoegaze indes nie wirklich ein Thema. Komplett normal aussehende Jungspunde, die auf der Bühne ihre Füße und die davor in Bataillonsstärke gruppierten Effektpedale anstarrten – daher auch der Name: Das war so anti Rock, wie man es mit Gitarren nur sein konnte. Das war middleclass, nicht proletarisch, und taugte ob seiner absoluten Untanzbarkeit nicht mal für die eben herrschende Rave-Kultur. Immerhin: Drogen passten super zu den Gitarrenschleiern, vernuschelten Sphären-Gesängen und verschleppten Beats.

Mit „Loveless“ lieferten My Bloody Valentine 1991 das bei Weitem konsequenteste Fazit des ebenso einschmeichelnden wie widerborstigen Stils ab. Beats wurden von mehreren Schleiern kaum konkret definierter Gitarren verhangen. Ein faszinierend invertierter, leiernder Sound machte jeden Anflug von melodischer Hittauglichkeit planmäßig zunichte. Im Gegensatz zu dieser Introvertiertheit stand jedoch die impertinente Lautstärke der ätherischen Dissonanz-Exzesse im Konzert, die Publikum und Kritiker als bis dato nicht erlebten körperlichen Angriff wahrnahmen. Unbeliebt hatte sich Mastermind Kevin Shields vorher auch schon bei seinem Labelchef Alan McGee gemacht. Bis heute dementiert der Gründer des damals wichtigsten britischen Independent-Labels zwar, dass die Produktion fast seinen Ruin bedeutet hätte. Glaubwürdig ist das nicht, schließlich lag der ganz große finanzielle Erfolg mit Oasis noch ein paar Jahre hin, bis dahin war auch Creation eines der Label, die vorn und hinten genau rechnen mussten, was machbar war. Nicht machbar war eigentlich, 250.000 Pfund für ein Album auszugeben, das einfach nie fertig wurde und von Shields diesbezüglich telefonisch mit immer neuen Abspeisungen hingehalten zu werden, die dann sogar – so lautet eine weitere Legende – als Songtitel Verwendung fanden.

Shoegaze wurde schnell verdrängt, Britpop und Grunge waren einfacher zu goutieren, hatten Botschaften, klare Melodien und Strukturen, taugten zum Mitsingen. Als „Hit“ im klassischen Sinne kann man nicht ein einziges Album der einschlägigen Protagonisten bezeichnen: Rides „Going Blank Again“ war mit einem Platz fünf der UK-Alben-Charts noch am erfolgreichsten, Lushs „Spooky“ landete auf sieben, Chapterhouse mit „Whirlpool“ auf 23, Slowdive und die Pale Saints gelangten gar nie in die Top 30. My Bloody Valentine schafften es mit „Loveless“ gerade mal auf Platz 24 – ein angesichts des Aufwands und der Vorschusslorbeeren finanziell extrem enttäuschendes Ergebnis für Creation. Alan McGee feuerte Shields denn auch prompt, der wechselte zum Major Island Records – nur um dort etliche Jahre absolut nichts zu tun, bis er irgendwann endlich aus dem Vertrag entlassen wurde.

„Loveless“ aber wurde in der Folge zum mythischen Über-Album, vergleichbar vielleicht mit dem Debüt der Velvet Underground oder „Revolver“ von den Beatles. Eingeordnet als Elite-Kulturgut der Popgeschichte, von späteren Generationen neu entdeckt und kultisch verehrt. Auch Shoegaze an sich erfuhr in den letzten Jahren eine Art Revival, das sich aber in seiner Konstanz ebenso verwaschen gab, wie das eigentliche musikalische Thema. Nicht mal auf den alten oder auch überhaupt nur einen Namen konnten sich die neuen Propheten einigen: Dream Pop sollte plötzlich heißen, was Bands wie Beach House, The Pains Of Being Pure At Heart oder – die kompetentesten – Tamaryn da spielten. Wahlweise aber auch Nu Gaze, Stargaze. Shoetronica kam dann auch ohne Gitarren aus, so wie der warmherzige Dezent-Elektroniker Ulrich Schnauss. Die Wiederentdeckung der Originale konnte dabei nicht ausbleiben. In der Endproduktion ist punktgenau „Beautiful Noise“, die wahrscheinlich wirklich „definitive Dokumentation“ über die Geschichte von Shoegaze, in der so ziemlich jeder relevante Akteur zu Wort kommt. 75.000 Dollar brachte im Handumdrehen eine Crowdfunding-Aktion für die Postproduktion und Lizensierungskosten, um den Film überhaupt aufführen zu können. Irgendwann in diesem Jahr soll es soweit sein.

My Bloody Valentine waren nun doch noch ein kleines Stück schneller. Schon seit 1996 sollen Stücke für „m b v“ in der Schublade gewesen sein, seit letztem Herbst gab es konkrete Ansagen, dass es ein neues Album geben wird. Eingespielt wurde es wohl – wie auch der Vorgänger –von Kevin Shields mehr oder weniger im Alleingang. Und: Es knüpft nahtlos an „Loveless“ an, einen Hauch zugänglicher agiert es. Aber vielleicht ist das auch nur den hörerseits deutlich gewachsenen Hörgewohnheiten geschuldet. My Bloody Valentine jedenfalls bleiben absolut unverkennbar, sie sind jetzt – um das mal zu übersetzen – die Band der institutionalisierten musikalischen Revolution. Das kann man gut finden oder übel nehmen. Nur egal sollte es einem nicht sein.

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