Als ausgemachter ESC-Hasser hat man es nicht leicht. Dieser seltsame Sangeswettbewerb ist einfach nicht tot zu kriegen, da hilft weder die alljährliche ästhetisch hilflose Show-Protzerei, noch die herrschende musikalische – wenn man noch Glück hat – Mittelmäßigkeit. Auch der diesjährige Siegersong ist eher schlichtes Liedgut, armselig produziert und mit schwachem Stimmchen intoniert. Trotz der vielfachen Beschwörung hätte er nie den Hauch einer Chance, in einem James-Bond-Film aufzutauchen. Aber: Man kommt nicht an ihm vorbei.
„It’s the singer not the song“ heißt eine der grundlegenden Weisheiten der Popmusik, es geht immer um Interpretation, um die Show, um das, was das Publikum für sich wahrzunehmen glaubt. Der ESC war schon immer ein Musterbeispiel für diese These, ein Gutteil der Gewinne verdankt sich vor allem einer Art Freakshow-Überrumpelungstaktik. Das ist in diesem Jahr nicht anders – mit dem Unterschied, dass „Europa“ seitdem wie besoffen von seiner eigenen moralischen Unerschrockenheit wirkt. Aus dem naturgemäß nationalistisch eingefärbten Spektakel scheint plötzlich eine Art internationaler Toleranzwettbewerb geworden zu sein.
Da kann man schnell mal vergessen, dass Conchita Wurst noch im letzten Jahr durch die ganz explizit mit rassistischen Stereotypen durchsetzte Fernsehsendung „Wild Girls – Auf High Heels durch Afrika“ stolperte; genau genommen durch Namibia, das die Kolonialgeschichte als „Deutsch-Südwestafrika“ kennt. Gerade ihr Travestie-Appeal diente dazu, vermeintliche schwarzafrikanische Hinterwäldler – „Wilde“ – vorzuführen. Wurst gehört zum Inventar des per se politisch und ästhetisch reaktionären Trash-TVs, bei dem man nie genau weiß, wer hier wen mehr benutzt, die Sender die Protagonisten oder die mediengeilen Protagonisten die Show. Das passt natürlich alles zum Gestus dieses European Song Contest, der ja nichts anderes ist, als ein grotesk übersteuertes und mit Pseudo-Bedeutung aufgeblähtes Festival des Trash. Erstaunlich am diesjährigen Erfolg ist eigentlich nur, dass es sich 40 Jahre nach David Bowie, 30 nach Boy George, 15 nach Marilyn Manson und fünf nach Lady Gaga für viele immer noch irgendwie verrucht und revolutionär anzufühlen scheint, eine androgyne Kunstfigur in aller Öffentlichkeit gut zu finden. Und exakt sechzehn Jahre nach dem ESC-Sieg von Dana International – falls sich noch jemand erinnert.
Die Vorgabe sexueller Unbestimmtheit, der mutwillige Umgang mit Geschlechtsmerkmalen und -zuschreibungen, der Wechsel der Seiten oder das bedingungslose Vorzeigen eigener Vorlieben abseits des vorgeblichen Mehrheits-Empfindens – in der Popmusik ist das seit vielen Jahren nicht nur gang und gäbe, sondern mitunter geradezu stilprägend. Gerade im – mehr oder weniger – Pop-Underground gibt es eine Vielzahl androgyn inszenierter Stars: Vom eklektizistischen Kunstszene-Bohemien Klaus Nomi bis zum brutal konsequenten Genesis P-Orridge, der mit Throbbing Gristle und Psychic TV Musikgeschichte schrieb, bevor er sich seinem ganz persönlichen Kunstprojekt Körperwandlung verschrieb. In weniger musikalisch experimentell orientierten Indie-Kreisen werden Antony Hegarty und sein Projekt Antony And The Jonsons oder Janine Rostron aka Planningtorock überaus geschätzt.
Immer wieder schwappte Transgender- und Queerculture vom Underground in den Mainstream und wurde gerade dort nicht mal immer bewusst als Statement oder gar Tabu-verletzend wahrgenommen. Das beginnt beim aus heutiger Sicht schon geradezu klischeehaft „schwul“ agierenden Freddie Mercury, was vom überwiegenden Teil des Publikums seinerzeit erstaunlicherweise nie wirklich reflektiert wurde. Oder bei der (jetzt würde man sagen) „Crossdressing“-Orgie Hair Metal, der in der Kleiderordnungs- und Schmink-Tradition des Glamrock wilderte. Auch die Verweigerung „weiblicher“ Darstellung durch Frauen ist schon seit Jahrzehnten im Mainstream angekommen: siehe Grace Jones oder Annie Lennox. Ohne explizit queeren Hedonismus wiederum ist die heute gängige Clubkultur in Gänze undenkbar. Disco schuf die ersten „Clubs“, in denen das Prinzip des „geschützten Raums“, in dem gerade sexuelle Freizügigkeit ungeachtet der Orientierung möglich war, durch eine hoch selektive „Türpolitik“ sichergestellt wurde. Diese zumindest temporäre Befreiung vom provinziellen Kleingeist ist über die musikalischen Evolutionsstufen House und Techno bis heute im Prinzip unverändert geblieben – aktuell gültiges Musterbeispiel ist das Berliner Club-Gesamtkunstwerk Berghain, das nicht nur mit Musik, sondern nicht zuletzt mit seinen Darkrooms Weltruhm erlangte.
So normal, so gut. Nicht normal dagegen mutet es heutzutage an, dass immer noch als „Außenseiter“ gilt, wer als Mann mit Bart in einem Frauenkleid in einem – bekanntermaßen von großen Teilen der Queer-Community besonders geschätzten – Musik-Format auftritt und eben wegen dieser „Exotik“ gewinnt. Das ist kein Grund zum Jubel. Sondern bleibt schlicht und einfach Trash.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.