"Oh my god! No way!", tönt es nach einer guten Sekunde fassungslosen Schweigens ungläubig aus dem Studiohintergrund, nachdem DJ Geeneus, Chef von Rinse FM, am 18. Juni ans Mikrofon tritt: "We got some news for you: Today we got a radio license." Damit endet nach 16 Jahren eine Ära als Englands wohl bekanntestes, größtes und wichtigstes "pirate radio".
Begonnen hat es – wie so vieles, was wir heute als selbstverständliche Kultur ansehen – in den frühen Sechzigern, als für die offizielle BBC-Radiolandschaft Rock- und Popmusik noch pures Teufelszeug war. Um die neue Musik on air zu bekommen, installierten Aktivisten Mittelwellensender auf Schiffen oder auf Offshore-Flaktürmen, die aus dem Weltkrieg übrig geblieben waren, und sendeten ihre Hits so vorerst unangreifbar aus internationalen Gewässern. Zumindest bis 1967, als ein neues Rundfunkgesetz diese Lücke schloss. Einen entscheidenden Erfolg konnten die "Pirates" – so hießen sie seit den Tagen auf hoher See – allerdings bis dahin schon verbuchen: Die BBC unternahm eine drastische Strukturreform und bot mit dem neuen "Radio 1" fortan eine eigene Plattform für Popmusik. Die Piratensender unterdes kamen zurück an Land. Billige Mittelwellentransmitter an einer Autobatterie übertrugen meist vorab auf Kassette aufgezeichnete Sendungen.
Bis Ende der Achtziger soll es 600 Piratensender in Großbritannien gegeben haben, ein Zehntel davon allein in London. Die wahre Blütezeit allerdings begann gerade erst: Inzwischen war – zumindest für fähige Techniker – die Einrichtung eines UKW-Senders mit einem Aufwand von 300 Pfund technisch und preislich machbar. Mit einer Antenne auf dem Dach eines der unzähligen Plattenbauhochhäuser in London konnte man gut 40 Meilen weit senden. Gleichzeitig explodierte die Rave-Kultur und neue Pirates lieferten dazu den Soundtrack. Und anders als die inzwischen als Mainstream etablierte englische Gitarrenpopkultur oder der schnellstens domestizierte Punk, gab die Rave-Szene mit ihren wochenendlangen, ganz selbstverständlich durch Drogen befeuerten und notorisch illegalen Warehouse-Partys ein neues gefährliches Feindbild für das Establishment der Post-Thatcher-Ära ab, das plötzlich eine ganze Generation Kids an die Gegenkultur der "Lifestyle Anarchie" zu verlieren fürchtete. Die Reaktion war ein Gesetz: 1994 wurde der "Criminal Justice and Public Order Act" verabschiedet, der in Raves und deren Sound ganz explizit Störungen der öffentlichen Ordnung ortete und diese definierte als "’music‘ (wohlgemerkt in Anführungszeichen) that includes sounds wholly or predominantly characterised by the emission of a succession of repetitive beats" . Über Jahre hinweg zieht sich die "Criminal Justice Bill" durch das Werk der UK-Dancefloor-Musiker, angefangen beim Prodigy-Hit "Their Law" bis zum Streets-Klassiker "Weak Becomes Heros".
Nicht nur Beifall
1994 ist auch das Jahr, in dem Rinse FM gegründet wurde. Mitten in der Evolution von Oldschoolrave zu Jungle und Drum Bass wurde die Station schnell zu einem der wichtigsten Sender in London, wo Piraten traditionell einen enorm hohen Höreranteil auf sich vereinen können. Hochspezialisiert auf Subgenres oder ethnische Gruppen, sollen 37 Prozent aller Erwachsenen in London Piratensender hören. Das zumindest hat die Ofcom herausgefunden, die für Rundfunk zuständige Behörde und damit der natürliche Feind der illegalen Radios. Über 50 illegale Sender wurden im Rahmen einer Aktionswoche allein im Herbst 2005 beschlagnahmt, Verdächtige bekamen Hausverbote auferlegt – für die Dächer ihres Viertels. Aber auch Strafandrohungen für Veranstalter, die mit ihrer Werbung die Sender finanzieren, oder die Hinweise auf Störung der Frequenzen von Notrettung und Feuerwehr, gar der Verweis auf "echte" kriminelle Aktivitäten einiger Radiomacher wie Drogenhandel, konnte die Vielfalt nicht eindämmen. Etliche der Piratensender entwickelten sich zu echten "community radios", die am Leben in ihren Vierteln sehr viel näher dran waren, als die offiziell erlaubten Sender.
Wie wichtig die Pirates für die englische Musikszene sind, zeigt vor allem Rinse FM, ohne welches der durchschlagende Erfolg von Grime und Dubstep – den dominierenden Trends auf den Floors der letzten fünf Jahre – kaum denkbar wäre. Stars wie Wiley, Dizzee Rascal, Skream oder Kode9 erhielten hier ihr erstes breites Publikum und trugen den Ruf von Rinse FM gleichzeitig über die Grenzen von London und Großbritannien hinaus. Denn längst sind die einschlägigen Sender auch über Internet zu empfangen und das Hören heutzutage auch ohne UKW-Radio praktisch überall möglich, wenn man ein geeignetes Handy besitzt. Rinse FM bietet dafür gleich eine eigene iPhone-App an. Ob es in einigen Jahren noch Piratenantennen auf Londons Hochhäusern geben wird und wohin sich die Piraten-Szene entwickeln wird, ist derzeit die große Frage.
Die Techniker von Rinse FM zumindest müssen nicht mehr über Feuerleitern steigen und Leitungen über Dächer ziehen. Der Sender ist jetzt legal, hat soeben die lokale Sendelizenz erhalten, auf die Senderchef DJ Geeneus schon seit 2007 hinarbeitet, als eine entsprechende Petition schnell massive Unterstützung fand. Der Beifall ist nicht ungeteilt. Zu viele Vorgänger – allen voran das in den Achtzigern legendäre Kiss FM – zeigten, dass die Legalisierung oft vor allem eine Kommerzialisierung bedeutet. Es wird sich bald zeigen, ob es beim hehren Anliegen Geeneus' bleiben wird, der unlängst ankündigte: "We want to be legal to say: look at our scene, look at what we’re doing." Ansonsten hört man eben den nächsten Sender. Auch wenn es schade wäre.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.