Destruktion westlicher Denktraditionen: „Philosophie in Afrika“ von Anke Graneß
Globale Vielfalt Anke Graneß dekolonialisiert in ihrem Buch „Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte“ die westliche Geschichte des Denkens
Jean-Paul Sartre in Luxor. Der Philosoph wusste, dass schon die alten Ägypter nach Erkenntnis strebten
Foto: Bettmann/Getty Images
Auf unsere Denktradition sind wir stolz in Europa. In den letzten Jahrhunderten, spätestens seit Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hat sich der Mythos zur Gewissheit und gar zur begründeten Theorie entwickelt, dass in Europa, und zwar in Griechenland, vor rund zweieinhalb Jahrtausenden das rationale, reflektierte Nachdenken entstanden sei, das man Philosophie nennt und auf dem letztlich das gesamte moderne und vernünftige Weltverständnis sowie gute Moral und Politik beruhten, was die „westliche Welt“ zum erfolgreichen Vorreiter der menschlichen Zivilisation macht.
Nun ist an diesem wunderbaren Bild vom Westen und seiner Rationalität in letzter Zeit Zweifel aufgekommen, und genau das ist ein guter Grund, das Buch Philosophie in
hilosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte von Anke Graneß zu lesen. Das Buch hätte einen ganz anderen Titel verdient, zum Beispiel „Wege des Denkens. Über die globale Vielfalt der kritischen Vernunft“. Nicht, dass der Titel, den das Buch hat, seinen Inhalt nicht in gebotener Kürze wiedergibt, aber er vermittelt den Eindruck, das Werk sei etwas für eine kleine Gemeinschaft von akademisch spezialisierten Leuten, die ein etwas abseitiges Interesse vereint. Das ist es aber keineswegs. Es ist eine fundierte Destruktion unserer westlichen Einbildung, dass wir in punkto Vernünftigkeit und selbstkritischem Denken der Welt, und insbesondere dem afrikanischen Kontinent, irgendetwas voraushätten. Und diese Analyse erschüttert weit mehr als die akademische Philosophie in Europa und Nordamerika.In zwölf Kapiteln, die man auch einzeln und je nach Interesse in unterschiedlicher Reihenfolge lesen kann, stellt Graneß immer wieder andere Selbstverständlichkeiten unserer Denktradition in Frage. Begann das philosophische Denken wirklich mit den griechischen Vorsokratikern oder finden wir vergleichbares kritisches Denken nicht schon Jahrhunderte früher in Ägypten? Ist Philosophie wirklich an Schriftlichkeit gebunden oder kann sie sich nicht auch in mündlicher Weitergabe von Weisheiten manifestieren? Wie sicher ist überhaupt die angenommene Autorenschaft? Wie viel wird durch die Übersetzung in europäische Sprachen verfälscht, womöglich mit politischen Absichten? In spannenden Fallbeispielen zeichnet die Autorin etwa nach, wie umstritten die Autorschaft des äthiopischen Gelehrten Zär’a Yaqob und seines Schülers Waldä Heywat aus dem 17. Jahrhundert ist, deren Werk nur durch die Abschrift eines europäischen Missionars bekannt ist. Der Fall ist natürlich nicht nur für sich interessant, sondern ebenso mit Blick auf die Quellenlage bei griechischen Fragmenten, auf die sich ganz selbstverständlich unsere Denktradition stützt. Ebenso spannend ist der Fall eines weiteren äthiopischen Textes, der das Leben der christlichen Nonne Walatta Petros (1592 – 1642) beschreibt und dessen Übersetzung in europäische Sprachen genutzt wird, um zu zeigen, dass Homosexualität in Afrika schon vor der Kolonialzeit existierte. Auch wenn diese These einleuchten mag, ist fragwürdig, auf welche Weise ein religiöser Text in einer fremden Sprache benutzt wird, um sie zu stützen.Afrika ist für Graneß paradigmatisch für Mechanismen des Ausschlusses von Denkstilen und Denktraditionen mit der Absicht, die eigene Rationalität als unschlagbare beste Version menschlichen Denkens bestimmen zu können. Die Autorin macht sichtbar, dass es bei diesem Ausschlussverfahren nicht nur um nicht-westliche Kulturen geht, sondern dass der Ausschluss auch innerhalb der westlichen Tradition wirksam ist, insbesondere wenn es um philosophisches Denken von Frauen geht. Eine Philosophiegeschichte in globaler Perspektive, für die Graneß einen Anfang machen will, muss Wege finden, diese Ausschlüsse insgesamt unmöglich zu machen. Aber es geht der Autorin keineswegs um bloße Integration all derer, die bisher ausgeschlossen waren. Ihr Projekt ist deutlich anspruchsvoller. Sie will nicht, dass aus europäischer Perspektive nun auch afrikanische Weise und Frauen aller Kontinente als Quellen miterwähnt werden, sie will neue Perspektiven finden, in denen die Entwicklung der Vielfalt philosophischen Denkens global dargestellt werden kann.Dafür wäre es womöglich sinnvoll, einen Aspekt deutlicher zu machen, der bei Graneß noch zu kurz kommt. Philosophie als kritische und selbstkritische Denkbewegung findet zunächst in Köpfen statt, sodann in Dialogen zwischen Philosophierenden, in Gesprächen und Seminaren, in Vorträgen mit Nachfragen und Diskussionen, in Vorlesungen, in denen Gedanken entwickelt werden. Schriftliche Werke wie auch mündlich überlieferte Weisheitssysteme sind Ergebnisse und dann wieder Quellen dieses eigentlichen Philosophierens. Auch die Standardwerke der europäischen Philosophie machen den kritischen Gedankengang, der ihnen vorausging, nur selten sichtbar. Genauso kann auch etwa das mehr als vier Jahrtausende alte altägyptische Regelwerk des Ptahhotep Ergebnis eines reflexiven Ringens und Diskutierens sein, auch wenn es am Ende als bloße Sammlung von Ratschlägen und Weisheiten erscheint.Über die Frage, ob und auf welche Weise in verschiedenen Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten tatsächlich kritisch über Selbstverständlichkeiten der alltäglichen Weltsicht und der tradierten Normen nachgedacht wurde, ob darüber diskutiert und reflektiert wurde, können wir keine abschließende Sicherheit erlangen. Wir können aber durch eigenes philosophisches Nachdenken über die Zeugnisse, die geblieben sind, plausible Vermutungen erarbeiten, die zeigen, dass es Philosophie in diesem Sinn überall gegeben haben kann, wo Menschen in Gemeinschaft lebten. Den Blick auf die Möglichkeiten dieses Denkens eröffnet zu haben, ist das Verdienst des Buches Philosophie in Afrika von Anke Graneß. Sie hat auch gezeigt, dass der Versuch, die gewohnte europäische Perspektive auf die Möglichkeiten menschlichen Denkens zu verlassen, neue, vielversprechende Denkwege des Philosophierens eröffnen kann.Placeholder infobox-1
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