Am 7. Februar 1990 verabschiedet das Bundeskabinett eine Beschlussvorlage. Diese sieht einen Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit“ unter dem Vorsitz von Kanzler Helmut Kohl vor. Dem Gremium gehören weiter Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und acht Ressortchefs an. Es soll „die notwendigen Schritte und Entscheidungen“ für eine Währungs- und Wirtschaftsunion sowie „zur Angleichung der Arbeits- und Sozialordnung der DDR an die Verhältnisse in der Bundesrepublik in Angriff nehmen“. Federführend werden die Bundesministerien für Finanzen, für Wirtschaft sowie Arbeit und Sozialordnung sein. Man will keine Zeit verlieren, sodass der Ausschuss noch am gleichen Tag seine Arbeit aufnimmt. Die Regierung Kohl ist von der Absicht beseelt, mit der DDR unverzüglich über eine gemeinsame Währung und Wirtschaftsreformen zu verhandeln. Ein Transfer der D-Mark, heißt es in Bonn, habe nur dann einen Sinn, wenn die DDR „den Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft zügig und konsequent“ vollziehe.
Heute sieht eine Mehrheit der Historiker jenen Kabinettsausschuss als mächtigen Pflock, den die damalige Bundesregierung einschlagen wollte, um einen Anschluss der nach dem Mauerfall angeschlagenen DDR unumkehrbar zu machen. Einen ersten Schritt in diese Richtung hatte es mit Helmut Kohls „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ gegeben, das Ende November 1989 dem Bundestag vorgestellt wurde. Die Historiker folgen dem Urteil des Altkanzlers, der das Programm in seinem Tagebuch 1998 – 2000 als einen „Mehrstufenplan zur Wiedervereinigung“ charakterisiert hat. Tatsächlich war der „Zehn-Punkte-Plan“, wie er genannt wurde, im Wesentlichen die Antwort auf ein von DDR-Premier Hans Modrow in seiner Antrittsrede am 17. November 1989 unterbreitetes Angebot einer „Vertragsgemeinschaft“ zwischen beiden deutschen Staaten. Kohl hatte im letzten Punkt seines Katalogs darauf verwiesen, dass „die Wiedervereinigung das politische Ziel der Bundesrepublik bleibe“, doch er stufte dieses Motiv offiziell als „Fernziel“ ein. Zunächst müsse man zwischen Bonn und Ostberlin „konföderative Strukturen“ aushandeln. Er habe als Nahziel bewusst nicht von einem Bundesstaat gesprochen, sagte Kohl im vertraulichen Gespräch mit US-Senatoren drei Tage später. Unter den jetzigen Umständen sei eine Föderation nicht möglich, aber wer könne schon wissen, „wie sich die Dinge in acht bis zehn Jahren entwickeln“?
Zunächst war an eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft gedacht, wie das Kohl und Modrow bei ihrem Dresdner Treffen am 19. Dezember 1989 bekräftigten. Gleich zu Beginn des neuen Jahrs sollten Experten aus Bonn und Ostberlin Vorschläge entwickeln, wie ein solcher Verbund aussehen könne. Man machte sich eifrig an die Arbeit. Ein Fachausschuss, in dem Ökonomen dominierten, legte dem Kabinett Modrow am 17. Januar einen Vertragsentwurf vor. Einen Tag später zog die Bundesregierung nach und präsentierte den „Entwurf eines Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft“. Die Papiere wiesen Übereinstimmungen in der Sache auf, nicht unbedingt in der Sprache. Für die DDR hatte der Übergang zu einer sozialen Marktwirtschaft Priorität. Er sollte sich schrittweise vollziehen und mehrere Jahre dauern. In einer zur gleichen Zeit entstandenen Denkschrift hatte die Volkswirtschaftliche Abteilung der Deutschen Bank zu einer Öffnung der DDR-Ökonomie gegenüber dem Weltmarkt vermerkt: „Für eine volle Konvertibilität ist realistischerweise ein großzügiger Zeithorizont zu veranschlagen […]. Ein schrittweises Vorgehen ist – auch nach historischen Erfahrungen – eher zu empfehlen als ein ‚großer Wurf‘.“ Ähnlich klang es in einem am 20. Januar vom bundesdeutschen „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ publizierten Sondergutachten: „Für geraume Zeit kann es hingenommen werden, dass der Staat in manchen Bereichen unternehmerisch tätig bleibt“, argumentierten die Wirtschaftsweisen dieses Gremiums.
Das Prinzip Turbovereinigung
Doch Kanzler Kohl schenkte nicht dem gebündelten Sachverstand Gehör, sondern einer Randgruppe um Thilo Sarrazin, Mitglied einer von Staatssekretär Horst Köhler (dem späteren Bundespräsidenten) geleiteten Arbeitsgruppe im Finanzministerium. Sarrazin hatte bereits im Dezember 1989 bei Finanzminister Theodor Waigel (CSU) „die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ angeregt. Als Kanzleramtsminister Seiters am 25. Januar zu Modrow fuhr, reiste er ohne Vorschlag der Bundesregierung für eine „Vertragsgemeinschaft“ im Gepäck nach Ostberlin und zeigte für die DDR-Gutachten kein Interesse.
Stattdessen lag am 29. Januar im Bundeskanzleramt ein „Vorschlag zur unverzüglichen Einführung der D-Mark in der DDR im Austausch gegen Reformen“ auf dem Tisch. Zwei Tage danach sprach Kohl erstmals öffentlich davon, dass „die letzte Stufe der deutsch-deutschen Einigung sehr kurzfristig und plötzlich erreicht werden könnte“.
Was hatte ihn veranlasst, auf das Prinzip Turbovereinigung umzuschwenken? Kohl selbst gibt in seinen Memoiren keine Antwort und schreibt über die Gespräche mit Modrow in Dresden, bei denen es um die Vertragsgemeinschaft ging, sie seien „im Prinzip ergebnislos verlaufen“. Das war eindeutig nicht der Fall, doch erwartete man in Bonn offenbar seit Januar 1990, dass der DDR-Ministerpräsident sein Amt nicht mehr lange halten werde. Die DDR erodierte zu stark. Anfang Februar teilte Kohl bei einem Treffen dem polnischen Außenminister Krzysztof Skubiszewski seine Besorgnisse mit: „Bereits 30 Bürgermeister mittlerer Städte sind davongelaufen, von 15 Bezirkspräsidenten einer.“ Sein Fazit: „Die Autorität der DDR-Verwaltung ist weg.“ Zudem fürchtete die Bundesregierung, es würden weiter massenhaft DDR-Bürger in den Westen strömen. „Besonders beunruhigend ist die hohe Übersiedlerzahl. Im Januar über 55.000“, vertraute Kohl seinem Gast an. „Wenn die Leute in diesem Umfang weiter weglaufen, ist die DDR nicht zu stabilisieren.“ Es war mit wachsendem Unmut der Bundesbürger über die den westdeutschen Sozialstaat in Beschlag nehmenden Ostler zu rechnen. Immerhin stand für die zweite Jahreshälfte eine Bundestagswahl an. Kohl wollte nicht bestraft werden für zu viel Konzilianz gegenüber der DDR.
So blieb nur die rasche Währungsunion, vor deren negativen Folgen der Kanzler durch seine Ratgeber mehrfach gewarnt worden war. Professor Hans Karl Schneider, Vorsitzender des Sachverständigenrats, erfuhr aus den Medien, dass am 7. Februar im Bundeskabinett die „Währungsunion mit Wirtschaftsreform“ beschlossen worden war. Er rief unverzüglich die Wirtschaftsweisen zusammen und setzte ein Schreiben auf, das am 9. Februar per Fax ans Kanzleramt übermittelt wurde. Darin hieß es: „Mit Besorgnis verfolgt der Sachverständigenrat die jüngsten Überlegungen, die auf die baldige Einführung der Währungsunion mit der DDR hindrängen. Die Währungsunion sollte nach unserer Auffassung nicht am Beginn stehen.“ Und weiter: „Es ist wohl unvermeidlich, dass die Einführung der D-Mark bei den Bürgern der DDR die Illusion erwecken muss, mit der Währungsunion sei auch der Anschluss an den Lebensstandard der Bundesrepublik hergestellt. Davon kann jedoch keine Rede sein.“ Vielmehr würden „mit einer raschen Währungsunion Anpassungsprozesse in Gang gesetzt, die die Produktion und Beschäftigung in der DDR beeinträchtigen können“.
Schneider sollte Recht behalten. Im Juli 1990, dem ersten Monat der Währungsunion, schrumpfte die DDR-Industrieproduktion um ein Drittel, während sich die Zahl der Arbeitslosen verdoppelte. Dass politisches Kalkül ökonomischen Sachverstand dominiert hat, belastet die deutsche Einheit bis heute.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.