Ein Generalstreik, der keiner sein durfte

Die Bizone am 12. November 1948 Vor 55 Jahren kam es zum einzigen "Demonstrationsstreik" in der (Vor-)Geschichte der Bundesrepublik

Ein Generalstreik in der deutschen Nachkriegsgeschichte? Gab es denn so etwas? Die meisten werden auf den 17. Juni 1953 tippen. Der damalige Massenstreik wurde ja erst vor einigen Monaten anlässlich seines 50. Jahrestages mit der Wucht von mehreren 100 Veranstaltungen dem Gedächtnis des Bürgers empfohlen. Die Medienoffensive war um die Botschaft bemüht, dass nicht nur in Berlin und einigen größeren Städten der DDR gestreikt wurde, sondern fast flächendeckend, von über 700 Orten war die Rede, von über einer Million Beteiligten.

Hier sei nun an einen anderen Streik erinnert. Am 12. November wird es 55 Jahre her sein, dass er stattfand - im Westen Deutschlands, genauer gesagt in der Bizone, dem Zusammenschluss von amerikanischer und britischer Besatzungszone. In der französischen wurde nicht gestreikt. Nicht, weil Arbeiter und Angestellten diesseits und jenseits des Oberrheins soviel von ihren Kollegen an Niederrhein, Isar oder Weser trennte, sondern weil es die Franzosen strikt verboten hatten. In der Bizone indessen belief sich die Teilnehmerzahl nach Gewerkschaftsangaben auf über neun Millionen Arbeitnehmer aus Industrie, Handwerk, Handel und Verkehrswesen - 72 Prozent der 11,7 Millionen Beschäftigten dieses Gebietes. Gemessen daran hätte die 24-stündige Aktion vom 12. November 1948 die Bezeichnung Generalstreik durchaus verdient, doch selbst die auf Zonen- wie Landesebene organisierten Gewerkschaften "Bizoniens" - der DGB wurde erst im Oktober 1949 gegründet - vermieden dieses Wort. Stattdessen hatten die Gewerkschaften am 6. November zu einem "Demonstrationsstreik" aufgerufen, womit nicht gemeint war, dass Streikende in Demonstrationszügen durch die Städte ziehen und ihre Forderungen - gegen Preistreiberei der Unternehmer, für Lohnerhöhungen und mehr Wirtschaftsdemokratie - überall publik machen sollten. "Arbeitsruhe" - nicht mehr - war seitens der Gewerkschaftsführung erwünscht. Deren Vorsicht war dem Einspruch der Militärgouverneure der Bizone zu verdanken, die Streikaktionen nur unter der Bedingung genehmigen wollten, dass "keine Kundgebungen, Versammlungen und sonstigen Zusammenkünfte am 12. November stattfinden". Dahinter stand die Furcht vor Unruhen und eventuellen politischen Eruptionen, denn im Zentrum gewerkschaftlicher Kritik stand der einflussreichste Mann im Wirtschafts- und Verwaltungsrat der Westzonen, der - wenn man so will - Chef der westdeutschen Wirtschaftsregierung, Ludwig Erhard. Er hatte mit der Währungsreform vom Juni 1948 die Aufhebung jener Preiskontrollen durchgesetzt, deren Wiedereinführung Arbeiter und Angestellten nun forderten.

Mit eiserner Disziplin

Der Streik vom 12. November, ökonomisch verursacht und sozial begründet, war insofern von einiger politischer Brisanz. Es ging letztlich um das ab 1949 als "soziale Marktwirtschaft" bezeichnete Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der (späteren) Bundesrepublik. Die Besatzungsmächte begründeten ihre Restriktionen gegenüber den Gewerkschaftsführern natürlich nicht damit, auf Erhards freie Marktwirtschaft und nicht auf die Wirtschaftsdemokratie der Gewerkschaften setzen zu wollen, sondern verwiesen auf die "Stuttgarter Ereignisse". Dabei war es am 28. Oktober 1948 nach Streiks und Protesten für Preisregulierung, Lohnerhöhung und Mitbestimmung zu schweren Unruhen gekommen, bei denen die US-Militärpolizei Tränengas und Panzer eingesetzt hatte. General Clay war äußerst nervös und hatte kurzzeitig ein Ausgehverbot für die Bewohner der ganzen Stadt verhängt.

Angesichts dieser "Vorfälle" - das leuchtete auch den kampfentschlossensten unter den Gewerkschaftsführern ein - müsse man auf Kundgebungen und Versammlungen verzichten. Es dürfe "zu keiner Überschreitung gerade dieses Teils der Anweisungen kommen".

Und es kam nicht dazu. Die Streikenden hielten "eisern Disziplin". "Es ging geordnet zu an jenem Freitag", vermerkt Erhard-Biograph Volker Hentschel. "Aber gerade aus der Ordnung ergab sich ein gut Stück der demonstrativen Kraft des Widerstandes gegen die Preiserhöhung, gegen die Marktwirtschaft und auch gegen Ludwig Erhard." Der überstand - mit den Besatzungsmächten im Rücken - bis Dezember 1948 mehrere Versuche, ihn abzusetzen. Genüsslich hat Erhard später über seine durch Aussitzen errungenen Siege in seinem Buch Wohlstand für alle (1957) berichtet: "Die Gewerkschaften verfügten ... einen eintägigen Generalstreik gegen die Fortführung der Marktwirtschaft. Sie wollten die Bewirtschaftung wiederhaben. Wir wollten das nicht. Also kam es auf die besseren Nerven an."

In feiertäglicher Stille

Spätestens 1949, mit der Gründung der Bundesrepublik, ging dann in Westdeutschland alles seinen marktkapitalistischen Gang. Wenn die Gewerkschaften auch "mit Befriedigung den imposanten Verlauf" der Geschehnisse vom 12. November 1948 zur Kenntnis nahmen, so wurde das Streikziel doch eben nicht erreicht. "Ein Erfolg der Gewerkschaften hätte zur Vollbremsung der Restauration geführt. Der Weg in die Wirtschaftsdemokratie wäre frei gewesen", schätzte Gerhard Beier, der einzige Chronist, den die Ereignisse vor 55 Jahren bisher gefunden haben, später ein.

Aufschlussreich ist, wie die bundesdeutsche Geschichtsschreibung mit jenem Tag umging. Als sich Historiker Anfang der sechziger Jahre der unmittelbaren Vorgeschichte ihres Staates zuwandten, fanden sie das Ereignis zwar erwähnenswert, etikettierten den Generalstreik jedoch als "eine Art Feiertagsstreik", eine bewusste Verharmlosung, wenn dies auch nicht völlig aus der Luft gegriffen war, tatsächlich war der Streiktag aus den bekannten Gründen, wie Gerhard Beier vermerkt, "in feiertäglicher Stille" verlaufen.

Als nach 1970 linke Geschichtswissenschaftler zu mehr Einfluss kamen, beschrieben Wirtschaftshistoriker wie Gerold Ambrosius und Werner Abelshauser den 12. November 1948 durchaus als Generalstreik. Dieses Urteil ist bis heute, wenn auch mit Abstrichen - "Generalstreik ist ein großes Wort" (Erhard-Biograf Hentschel) - beibehalten worden, allein die bundesdeutsche Gewerkschaftsgeschichtsschreibung vermeidet es weiterhin, von "Generalstreik" zu sprechen und beharrt auf dem seinerzeit von der Streikführung umständehalber gewählten Begriff "Demonstrationsstreik", mit dem sich heute kaum noch etwas anfangen lässt.

Doch das sind Nuancen der Forschung, die Ereignisse des 12. November 1948 (immerhin handelte es sich um den größten Streik in Deutschland seit dem Kappputsch) ins historische Gedächtnis des Bundesvolkes dringen zu lassen, ist - ganz anders als im Falle des 17. Juni 1953 - nie versucht worden. Über die Gründe dafür, dass die damaligen Vorgänge "zu den verdrängten Komplexen der Sozialgeschichte der Bundesrepublik" gehören, schrieb Beier bereits 1975, was auch heute noch gilt: "Die einen haben es vergessen, weil es kein strahlender Sieg war. Die anderen mochten es nicht in Erinnerung behalten, weil es jenes Unrecht deutlich macht, das am Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs und der gesellschaftspolitischen Restauration stand." Nur, warum sollte es nicht nützlich sein, sich auch der Kämpfe zu erinnern, die mit einer Niederlage endeten. Das betrifft nicht nur den 17. Juni 1953, sondern auch den 12. November 1948.

Professor Jörg Roesler ist Historiker und lebt in Berlin


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