Währung ohne Staat

1993 Vor 20 Jahren tritt der Maastricht-Vertrag in Kraft. Die EU stellt die Weichen für den Euro und vernachlässigt die Politische Union
Ausgabe 44/2013
Währung ohne Staat

Foto: picture-alliance/ dpa

Von diesem 1. November 1993 an können 342 Millionen EU-Bürger in zwölf Staaten „vier große Freiheiten“ auskosten: den freien Verkehr von Personen, von Waren, Dienstleistungen und von Kapital. An diesem Tage herrscht unter maßgeblichen europäischen Politikern Genugtuung, aber alles andere als Euphorie. Dafür hat der Weg in die Europäische Union zu lange gedauert. Jean Monnet – von 1952 bis 1955 als Präsident der Montanunion Chef eines Vorläufers der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und später als „Ehrenbürger von Europa“ geehrt – schreibt 1994 rückblickend: „Als die EWG 1957 ihre Arbeit aufnahm, gewann die Auffassung weite Verbreitung, dass sie sich rasch zur Wirtschaftsunion entwickeln würde, die wiederum die Bedingungen für eine Politische Union schaffe. Tatsächlich hat es mehr als 30 Jahre gedauert, bevor die Säulen einer Wirtschaftsunion belastbar waren. Angenommen hatte man, das wäre innerhalb eines Jahrzehnts zu schaffen.“

Zwar berührt der Maastricht-Vertrag alle für eine Politische Union unverzichtbaren Themenfelder – Finanzen, Verteidigung, Außenpolitik und Recht –, aber praktisch werden weiter alle wesentlichen Entscheidungen „intergouvernemental“ getroffen. Das heißt, durch EU-Gremien, die keine autonomen Instanzen sind. Darin haben nach wie vor die Regierungen der Mitgliedsstaaten das Sagen, ob durch Mehrheits- oder einstimmige Voten. Die Fortschritte auf dem Wege zur Wirtschaftseinheit empfindet Jean Monnet 1994 als ernüchternd. Erst der Maastricht-Vertrag ermögliche, dem gerecht zu werden, was schon 1970 der damalige luxemburgische Premier Pierre Werner wollte – eine europäische Währungsunion.

Neue Bauphase für das Europäische Haus

Andere Politiker sehen keinen Grund, ihre Befriedigung über den Maastricht-Vertrag zu verhehlen, darunter die Außenminister der seinerzeit noch zwölf Mitgliedsländer. Man spricht von einer neuen Bauphase für das Europäische Haus. Sollte die wirtschaftliche Einheit vorankommen, werde das für genügend Druck auf die EU-Regierungen sorgen, die politische Einheit nicht zu vernachlässigen. Bei derartigen Prognosen wird übersehen, dass es ein frappierendes Ereignis gab, das Anfang der neunziger Jahre die Integrationsdebatte kurzzeitig dominierte: die deutsche Einheit.

Einem wiedervereinigten Deutschland widersetzten sich zunächst sowohl die britische Premierministerin Margaret Thatcher als auch der französische Präsident François Mitterrand, weil sie um das Gewicht ihrer Staaten in einem nach Osten hin erweiterten europäischen Staatenbund fürchteten. Noch Ende Dezember 1989 versicherte Mitterrand bei einem Besuch in Ostberlin, Frankreich werde eine sich reformierende DDR weiter als zweiten deutschen Staat behandeln und bei seinen Vorhaben unterstützen. Kanzler Helmut Kohl fuhr das gehörig in die Parade. Es gelang ihm erst durch Konzessionen, die mehr europäische Kontrolle für das vereinte Deutschland versprachen, das Pariser Störfeuer unter Kontrolle zu bringen. In einer gemeinsamen Erklärung vom 19. April 1990 einigten sich Kohl und Mitterrand, dass spätestens ab 1. Januar 1993 über die politische Einheit der Europäischen Gemeinschaft verhandelt werden müsse, doch warf der Maastricht-Prozess bereits seine Schatten voraus. Das Primat der wirtschaftlichen Einheit hatte Vorrang – die „Vereinigten Staaten von Europa“, von denen Jean Monnet träumte, erwiesen sich als Utopie.

Folgerichtig blieb nach 1993 die Frage unbeantwortet, ob die EU eine Freihandelszone de luxe sein sollte oder ein wahrhaft politischer Verbund. Wollte man sich für einen rein zwischenstaatlichen Ansatz oder eine gemeinschaftliche Vorgehensweise entscheiden? Dabei sprach alles dafür, dass die Zukunft der EU den Aufbau eines politischen Europas auf gemeinschaftlicher oder föderaler Grundlage brauchte – Staatenbund oder Bundesstaat, so die Alternative? Gewiss eine brisante Frage, die besonders in Frankreich zum Vorwurf des „Integrationsradikalismus“ führte und eine Europa-Skepsis schürte, die sich im Mai 2005 beim Referendum über eine EU-Verfassung in unerwartet deutlicher Weise entladen sollte. Immerhin 55 Prozent der Wähler votierten gegen das Vertragswerk.

1995 war – ohne zuvor genug für eine „europäische Staatlichkeit“ getan zu haben – das Wagnis Euro beschlossen und de facto auf eine Währung ohne Staat gesetzt worden. Eine verhängnisvolle Option, wie man heute weiß.

Ökonomen für stufenweise Integration

Anders als viele EU-Politiker hatten namhafte Ökonomen Anfang der neunziger Jahre auch aus anderen Gründen vor einer allzu raschen Einführung der damals noch als ECU firmierenden Einheitswährung gewarnt. Das gleiche Ereignis, welches Regierungen animierte, sich für eine beschleunigte Währungsunion in Europa einzusetzen – die deutsche Wiedervereinigung –, führte viele Ökonomen zu der Auffassung: Die weitere Integration muss stufenweise und bedächtig angegangen werden. Zum Anwalt der Bedachtsamkeit wurde Karl Otto Pöhl als Präsident der Deutschen Bundesbank. In einer Rede vor dem Europäischen Parlament im April 1991 warnte er vor der überstürzten Einführung einer Gemeinschaftswährung. Zuvor müsse das innerhalb der EU doch beträchtliche Produktivitätsgefälle wenigstens teilweise ausgeglichen werden. Man solle an die in der DDR am 1. Juli 1990 eingeführte D-Mark denken. Da die Arbeitsproduktivität ostdeutscher Unternehmen im Schnitt nur bei 50 Prozent vergleichbarer westdeutscher Wettbewerber lag, habe die Einheitswährung die kaum konkurrenzfähigen Akteure im Osten umgehend vom Markt gefegt. Ein Erhalt verbliebener Standorte sei nur dank umfangreicher Transfergelder möglich gewesen. Die Schlussfolgerung Pöhls lautete: Wenn solche Turbulenzen einer Währungsunion in Europa erspart bleiben sollen, muss es mehr Konvergenz zwischen den potenziellen Eurostaaten geben, bevor der Euro die nationalen Währungen ablöst.

Diese Warnungen wurden von der Politik ungern gehört und zumeist ignoriert. Der Mahner Pöhl verlor auf Drängen von Kanzler Kohl noch im Jahr 1991 sein Amt. Seine und die Bedenken anderer Wirtschaftsanalysten fanden sich immerhin durch die „Stabilitätskriterien“ berücksichtigt, wie sie im Maastricht-Vertrag verankert waren. Danach durfte die jährliche Neuverschuldung eines jeden Unterzeichner-Staates drei Prozent und die Gesamtverschuldung 60 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten. Hans Tietmeyer, Pöhls Nachfolger an der Spitze der Bundesbank, wurde angesichts einer allzu großzügigen Kontrolle dieser Standards durch die zuständigen EU-Gremien nicht müde, auf deren strikter Geltung zu bestehen. Als Tietmeyer im Herbst 1996 bei einer Rede vor dem Bundestag darauf beharrte, es dürfe bei den Konvergenz-Kriterien keinen Leichtsinn geben, wurde er von Altkanzler Helmut Schmidt heftig angegriffen und als größter Gegner der europäischen Einheitswährung gescholten.

Der Mahner sollte recht behalten. Der lockere Umgang mit den Maastricht-Klauseln und das generell unbekümmerte Herangehen von Europäischem Rat und EU-Kommission an Aufnahmeanträge süd- und osteuropäischer Aspiranten führte zu den ökonomischen Verwerfungen innerhalb der Gemeinschaft, vor denen Pöhl und Tietmeyer gewarnt hatten. Allerdings kam dies den EU-Regierungen erst voll zu Bewusstsein, als 2008/09 die von den USA herüberschwappende Kredit- und Immobilien-Krise auf Europa übergriff und den Euro als Geisel nahm.

Der Maastricht-Vertrag von 1993 hat als mutiger Schritt hin zu mehr europäischer Integration nach einer Phase langen Zögerns sicher Erinnerung und Achtung verdient. Doch haben seine waghalsige Konstruktion und die allzu oft fahrlässigen Vertragsbrüche die Europäische Union in eine existenzielle Krise manövriert, der zu entkommen mutmaßlich erst in Jahren gelingt.

Jörg Roesler schrieb hier zuletzt über Roosevelts National Recovery Administration (NRA)

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