Daniel Jonah Goldhagen bezeichnet in seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker die Nazis als "gründlichste Revolutionäre der Moderne", die Deutschland in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft radikal umwälzten. So radikal, dass auch die entlegensten Gegenden des Reiches, denen die Anonymität des Großstadtlebens fremd war, davon nicht verschont blieben. Geschichten darüber münden in Lebensbilder, denen zwischenzeitlich nicht nur das Gros der Zeitzeugen abhanden kommt, sondern auch die Erinnerungskultur - so sehr am 27. Januar, dem Auschwitz-Gedenktag, auch das Gegenteil beschworen werden mag.
Als 1944 der aus Ahrensbök stammende Landwirt Max Schmidt die Leitung des Auschwitz-Nebenlagers Fürstengrube übernahm, legte gerade der "Kriegstagebuchführer" des Wehrmachtsführungsstabes, der Göttinger Historiker Percy Ernst Schramm, ein Gutachten zur Treibstoff-Frage vom Herbst 1943 bis Juni 1944 vor. Darin hieß es, die Kampfführung der Wehrmacht zu Lande, zu Wasser und in der Luft sei "auf das höchste bedroht".
In einer Festschrift für den Göttinger Völkerrechtler Herbert Kraus erschien dieser Text 1954 in geglätteter Version, und besagter Percy Ernst Schramm überreichte mir 1960 einen Sonderdruck, als ich seinerzeit dank eines Stipendiums des Auswärtigen Amtes zum Studium nach Paris ging. Das Gutachten begann nach wie vor mit einer Würdigung der "deutschen Wissenschaft", die das Rohstoffmonopol der Alliierten durch die Herstellung von synthetischem Gummi (Buna) und synthetischem Benzin gesprengt habe. Als die Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG unweit der ins "Großdeutsche Reich" eingegliederten Stadt Oswiecim (Auschwitz) seit 1941 genau dafür Fabrikationsstätten errichtete und so die "deutsche Wehrwirtschaft" stärkte, fiel die Entscheidung für diesen "Standort" vorzugsweise deshalb, weil kaum mit Luftangriffen der Alliierten zu rechnen war und das nahegelegene Konzentrationslager billigste Arbeitskräfte versprach.
Lübecker Bucht
1960 war ich noch nicht in der Lage, die Bedeutung des erwähnten Gutachtens zu erkennen, obwohl mich Konsequenzen der Standortentscheidung schon im April 1945 eingeholt hatten. Als Achtjähriger wurde ich Augenzeuge der letzten Phase des Todesmarsches der Häftlinge von Auschwitz-Fürstengrube, der in der Umgebung meines Heimatortes Ahrensbök in Ostholstein endete. Wie für sämtliche Häftlinge des Auschwitz-Komplexes hatten in der Nacht zum 19. Januar 1945 auch 1.200 Männer und Frauen aus Fürstengrube abmarschieren müssen - zusammen mit dem Kommando Klosterwerke/ Dora um Lagerführer Mirbeth erreichten 400 von ihnen am 13. April 1945 Ahrensbök und wurden in einer Feldscheune bei Siblin interniert. Ausgemergelte Gestalten schleppten sich vor meinen Augen mühsam durch die Stadt. Noch auf dem Weg von Lübeck nach Ahrensbök waren Häftlinge erschossen worden. "Unrecht war unser Tod. Sechs unbekannte KZ-Häftlinge. Den Lebenden zur Warnung, den Kommenden zur Mahnung", lautet die Inschrift auf einem Grabstein des Ahrensböker Friedhofes für diese Opfer, die man am 14. April 1945 in einem Straßengraben gefunden hatte.
Einigen Überlebenden des Todesmarsches bin ich damals begegnet, als ich Milch für die Familie aus Neu Glasau holte, wo sich der Lagerführer von Auschwitz-Fürstengrube, der erwähnte Max Schmidt, mit 20 Häftlingen auf dem Hof seines Vaters aufhielt - hier gab es wenigstens Lebensmittel, Wasser und vor allem Latrinen. Andere Häftlinge hatte die SS noch Ende April in Richtung Neustadt getrieben, wo sie auf die Cap Arcona übergesetzt wurden, einen ehemaligen Luxusliner, der manövrierunfähig in der Lübecker Bucht lag. Am späten Nachmittag des 3. Mai griffen britische Jagdbomber das Schiff an. Von den mehr als 7.500 Häftlingen an Bord konnten sich knapp 350 retten und ans Ufer schwimmen. Dort trafen sie auf ganz "gewöhnliche Deutsche", die einige von ihnen erschlugen. Für mich, den Achtjährigen, waren ihre entstellten Körper die einzigen Toten, die ich während des Krieges in dem von Kampfhandlungen weitgehend verschonten Ostholstein gesehen habe. Viele von ihnen liegen bis heute in einer abgelegenen Gegend der vielbesuchten Lübecker Bucht verscharrt - bedacht mit einem dürftigen Holzkreuz, keines besseren Gedenkens für würdig befunden.
Vier Überlebende aus dem Lager Fürstengrube blieben dennoch in Ahrensbök - Mendel Dawidowicz, Schusterkapo aus Auschwitz, arbeitete später als Schuhmacher und beeindruckte mich als Turnlehrer im Ahrensböker MTV. Roman Gutreich kam in der Bäckerei vom Café Luckmann unter. Herzko Bawnik, Maurer in Auschwitz, blieb als Lastwagenfahrer, während Emil Löffler, der Vierte, bald nach Neustadt verzog.
Der Lagerführer Max Schmidt verschwand zunächst aus meinem Blickfeld, bis ich ihn Mitte der neunziger Jahre nicht nur wiedersah, sondern auch bereit fand, über seine Zeit in Auschwitz zu sprechen. Er erzählte mir, er sei 1944 als kriegsversehrter SS-Mann, der nicht mehr "fronttauglich" war, nach Fürstengrube gekommen und habe dort ein Kommando übernommen, dem er sich - wie er bald feststellen musste - nicht gewachsen fühlte. Auf meine Frage, weshalb er dann noch im Frühjahr 1945 entkräftete, erschöpfte, todkranke Häftlinge durch Holstein getrieben habe, antwortete Schmidt, das sei nötig gewesen, "um Schlimmeres zu verhüten". Tatsächlich gab es nach dem Krieg einige Häftlinge, die zu seinen Gunsten aussagten.
Ahrensböker Pferdemarkt
Max Schmidts Erinnerungen bildeten eine Ausnahme. Die Mehrheit der Bürger Ahrensböks wollte später mit den Ereignissen vom April 1945 nicht mehr behelligt werden: "Wir haben davon nichts mitbekommen", hatte sich kollektive Amnesie auf eine kollektive Formel verständigt. Das überraschte, da viele zwischen 1933 und 1945 das Schicksal ihrer jüdische Mitbürger teilweise miterlebt, teilweise auch erleichtert hatten.
Das galt nicht zuletzt für die Familie des jüdischen Viehhändlers Noah Troplowitz, Vater der 1898 in Ahrensbök geborenen Emmy Johanna Kröger (sie wuchs bei ihrem Stiefvater Kröger in Niendorf/Ostsee auf), der zweiten Frau des Schriftstellers und entschiedenen Hitler-Gegners Heinrich Mann. Dieser Noah Troplowitz verstarb am 28. März 1934 im 76. Lebensjahr, sein Sohn, der jüdischen Pferdehändler Otto Troplowitz, überlebte als "getaufter Jude" die Nazi-Zeit wie auch seine 1891 geborene Schwester Minna, die den Sozialdemokraten und Viehhändler Franz Koop geheiratet hatte. Welche Gefahren für die Koops und Troplowitz´ bestanden, lässt sich - um nur ein Beispiel zu geben - aus dokumentierten Auslassungen des NS-Ortsgruppenführers und späteren Bürgermeisters Wilhelm Wulf ersehen. Wenige Tage nach Bekanntgabe der Nürnberger Gesetze nutzte er 1935 einen Streit über den Ahrensböker Gemeindevorsteher Kahl, um zu Protokoll zu geben: "Kahl ist häufig mit dem Viehhändler Koop zusammen und macht mit ihm Autofahrten in die Umgegend, unter anderem auch nach Lübeck und betrinkt sich dort. Koop gehörte früher dem SPD-Reichsbanner an. Koops Frau ist Jüdin ..."
Im gleichen Jahr wurde Otto Troplowitz trotz seines Status als "getaufter Jude" zur Arbeit zwangsverpflichtet; zunächst in der Gießelrader Meierei, ab 1940 in einer Kieler Fischfabrik. Am 13. Februar 1945 sollte er zusammen mit seiner Schwester und deren Kindern Theodor und Grete - im Rahmen der "Endlösung" für die in "Mischehen" lebenden Juden - zum "Arbeitseinsatz" nach Theresienstadt deportiert werden. Es war der Zivilcourage einiger weniger Ahrensböker zu danken, wenn alle untertauchen konnten und von niemandem denunziert wurden. Dabei half ihnen zweifellos der vertraute Raum einer Stadt- und Landgemeinde, in der Bürger wie Max Schmidt senior - der Vater des Lagerkommandanten von Auschwitz-Fürstengrube - nach 1933 jahrelang weiter ihre Geschäfte mit dem Viehhändler Koop gesucht hatten, auch wenn sie damit aus Sicht der nazistischen Ideologie an der "völkischen Reinheit" rührten. Es entsprach den Eigenarten des Ahrensböker Biotops, dass der zuständige Regierungspräsident Franz Böhmcker zuweilen eine gnädige Hand über die Familie Koop-Troplowitz hielt und den Sozialdemokraten Koop schützte, weil er den trinkfesten Viehhändler Koop schätzte, der sich bei Geschäften wie Zechgelagen den Honoratioren des Sprengels gewachsen zeigte.
Einen solch einflussreichen Fürsprecher, wie er den Kopps und Troplowitz´ vergönnt war, blieb der Familie des Tierarztes Hermann Beckhard versagt. Sie musste Haus und Grundstück am Ahrensböker Pferdemarkt 112 unter dem Druck der "Arisierungsverordnungen" von 1938 zu einem Schleuderpreis veräußern, bevor sie fast vollständig nach Amerika emigrierte. Ahrensböks größtes Unternehmen, die Globus Gummi- und Asbest-Werke gaben sich kurz darauf als Erwerber des Anwesens zu erkennen. Pikanterweise ist bis heute bei den Globus-Werken kein Kaufvertrag aufzufinden, obwohl das Firmenarchiv seit den zwanziger Jahren eine Fülle von Immobilienkäufen genau dokumentiert. Eine Erbengemeinschaft der Beckhards forderte so ab 1954 immer wieder vergeblich Entschädigung und Wiedergutmachung.
Von dieser Familie überlebten die Söhne Ernst, Kurt und Walter Beckhard sowie die Töchter Hedwig, Elly und Erna dank rechtzeitiger Emigration, während Hedwig Beckhard, die 1902 geborene älteste Tochter, in Theresienstadt umkam. Walter Beckhard war nach dem Tod des Vaters im Jahre 1936 aus Lübeck nach Ahrensbök gezogen, um die Mutter und die Großmutter zu schützen, aber wohl auch, um beide auf die Unausweichlichlichkeit des Exils vorzubereiten.
Anzumerken bleibt: Vater Hermann Beckhard hatte sich als demokratisch gesinnter Bürger Ahrensböks schon früh und energisch den Parolen der NSDAP und ihres in Norddeutschland agierenden Völkisch-Sozialen Blocks entgegengestellt. Am 15. April 1924 etwa berichteten die Ahrensböker Nachrichten: "Herr Tierarzt Beckhard wandte sich nachdrücklich gegen den vom Völkischen Block propagierten Rassenkampf gegen die Juden ..." Eine Warnung, die Beckhard bis 1933 noch oft wiederholen sollte, was dazu führte, dass Eduard Koch und Paul Thätner, zwei seiner Mitstreiter, im Februar 1933 zu den ersten Ahrensbökern zählten, die von der Gestapo in "Schutzhaft" genommenen wurden.
Über sechs Jahrezehnte später erinnert in Ahrensbök kaum noch etwas an die jüdischen Nachbarn von einst. Dabei ist das gastfreundliche, moderne Haus der Beckhards vielen Ahrensbökern noch heute durchaus vertraut - als Wohnsitz leitender Angestellter der Globus-Werke.
Jüdische Frontsoldaten
Nach den von der Gestapo geführten "Akte zur Bekämpfung der Juden" für das damals zum Freistaat Oldenburg gehörende Ahrensbök waren auch Angehörige meiner Familie Verfolgungen ausgesetzt. So warnte die Gestapo den Regierungspräsidenten und andere Amtsträger am 26. November1935 vor Auftritten des Schriftleiters der Zeitung Schild des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten, Dr. Hans-Werner Wollenberg aus Berlin. Dem Betreffenden war vom Geheimen Staatspolizeiamt bis auf weiteres jede Betätigung als Redner jüdischer Veranstaltungen verboten worden, "da er sich ... auf verschiedenen Versammlungen des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten in einem solchen Maße für das Verbleiben der Juden in Deutschland eingesetzt hat, dass seine weitere Tätigkeit geeignet ist, die Maßnahmen der Reichsregierung hinsichtlich der Judenfrage zu schädigen ..." - Der hoch dekorierte Offizier des Ersten Weltkrieges Hans-Werner Wollenberg überlebte ab 1942 mehrere NS-Zwangsarbeiterlager.
Der Autor ist Professor für politische Bildung an der Universität Bremen und erforscht seit Jahren die Geschichte seines Heimatbezirks in Schleswig-Holstein.
s. auch: Gerhard Hoch: Von Auschwitz nach Holstein. Der Leidensweg der 1200 jüdischen Häftlinge aus Fürstengrube, Hamburg 1998.
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