Eines der größten Probleme Leipzigs liegt knapp 200 Kilometer entfernt: Berlin. Dabei hat die Stadt der bundesdeutschen Hauptstadt durchaus etwas entgegenzusetzen und zwar ausgerechnet auf deren Hoheitsgebiet der Schönen Künste. Zum einen erblüht in Leipzig die klassische Musik in einer Üppigkeit, die dem Protestantismus ansonsten eher fremd ist. Zum anderen hat die zeitgenössische Malerei nicht zufällig hier Schule und dann auf der Welt das große Geld gemacht. Auch in Sachen Literatur besteht kein Anlass zur Bescheidenheit: In jedem Frühjahr verzeichnet das als Buchmesse getarnte Literaturfestival neue Rekorde. Zudem zeugen mehrere kleine Verlage und feine Zeitschriften von publizistischem Wagemut. Auch das Deutsche Literaturinstitut wäre nirgends besser aufgehoben als im Leipziger Musikerviertel zwischen Kunsthochschule und US-Konsulat.
Doch da ist noch etwas anderes, wodurch diese Stadt auf der literarischen Landkarte hervorsticht: Hier leben erstaunlich viele Dichter. Ja, ausgerechnet die Lyrik, diese vielleicht heikelste Gattung, hat sich in dem Biotop aus literarischer Infrastruktur, geringen Lebenskosten und städtebaulicher Unfertigkeit bestens eingerichtet. Was auch andernorts nicht unbemerkt bleibt: Gerade sorgt eine Leipziger Poetengeneration von Anfang- bis Mitte-Dreißig-Jährigen bei einschlägigen Gelegenheiten für Aufsehen und -hören. Und das, ohne eine eigene Szene darzustellen; es gibt keine festen Orte oder regelmäßigen Treffen, obwohl die meisten mit dem Deutschen Literaturinstitut ein gemeinsames Nadelöhr haben. Am besten also, man besucht die Dichter da, wo sie arbeiten: zu Hause.
Nichts für die Straßenbahn
Konstantin Ames sitzt an einem kleinen Küchentisch im Leipziger Künstlerbezirk Plagwitz. Auf seiner frisch rasierten Glatze spiegelt sich orangefarbenes Licht, was seiner Erscheinung etwas Mönchhaftes verleiht. „Ich würde mich gar nicht als Lyriker bezeichnen“, sagt Ames, der im vergangenen Jahr den Lyrikpreis des open mike gewonnen hat; was eines der besten Dinge ist, die einem Nachwuchsdichter passieren können. „Den Lyriker umgibt eine Aura des weltabgewandten Sprachsensibelchens, des Sozialautisten, der ewige Wahrheiten verkündet“, meint er. Deshalb würden auch so wenige Gedichte gelesen: „Lyrik gilt weithin, und das nicht mal zu Unrecht, als urbane Klugscheißerei.“ Und was stellt er dem entgegen? „Gedichte haben auch eine übergeordnete Funktion: Es geht darum, Wahrnehmungsstrukturen aufzubrechen, neue Felder zu eröffnen.“ Lyrik habe schließlich eine politische Aufgabe, findet Konstantin Ames: „Das utopische Potenzial mag graduell verschieden sein, aber wenn man nichts verändern will, dann sollte man auch nicht schreiben.“
Das Wörtchen „sollte“ kommt bei Konstantin Ames häufiger vor. Nicht ohne Angriffslust macht er gestenreich deutlich, was er nicht will. Zum Beispiel „Befindlichkeitslyrik, diese in Verse gegossene Politikverdrossenheit, das ist Tagebuch mit Zeilenbruch.“ Oder Humorlosigkeit: „Man sollte als Lyriker nicht erwarten, dass man die eigene schlechte Laune auch noch vergütet bekommt.“ Schlechte Laune kann man Ames zumindest nicht vorwerfen, seine sich in vertrackten Nebensätzen niederschlagende Assoziationsfreude ist mitunter nur schwer zu unterbrechen. Schlecht zu sprechen ist er dagegen auf den Generalvorwurf gegenüber zeitgenössischer Lyrik: Unverständlichkeit. Gute Gedichte müssen, seiner Meinung nach, auch überraschend und verrätselt sein dürfen. Und laut: „Ich will meine Leser dazu auffordern, laut zu lesen. Das kann man gar nicht laut genug sagen. Gute Lyrik ist nichts für Nebenher, nichts für die Straßenbahn.“
Aussehen wie es klingt
Ulrike Almut Sandig wohnt in einer Dachwohnung mit Tieren: Ein Okapi steht unsicher auf der Fensterbank, auf dem Rand der Badewanne liegt ein Blauwal, ein Bär starrt melancholisch aufs Bücherregal. Sandigs jüngstes Buch heißt Flamingos, es enthält Kurzgeschichten, in den vergangenen Tagen hat sie in verschiedenen Städten daraus vorgelesen. Im sonnigen Wohnzimmer ist es zu heiß, wir setzen uns in die Küche, durch das Fenster weht eine Sommerbrise Pappelflusen herein. „Vom Bücherverkauf allein kann man natürlich nicht leben“, sagt Sandig, die von allen Leipziger Lyrikern die meisten Bücher verkauft, „aber das finde ich nicht so schlimm. Die Bühnenarbeit ist mir mindestens genau so wichtig. Und wenn man das gerne macht und das Publikum merkt, dass man das gerne macht, dann kann man schon davon leben.“
Sie zupft sich eine Pappelfluse aus dem kurzen schwarzen Haar und lehnt sich wieder zurück. „Was ich schreibe ist nichts, das primär auf Papier gedruckt ist. Ich will es vortragen und, wenn es der Text erfordert, singe ich schon mal ein Kinderlied. Ohne jetzt albern zu werden. Hoffentlich.“ Ulrike Almut Sandig lacht viel und man spürt, dass sie sich die Gelassenheit leisten kann. „Die meisten verlangen zuviel von ihren Lesern. Seien wir doch mal ehrlich: Wenn man von einem harten Arbeitstag nach Hause kommt, setzt man sich nicht hin um experimentelle Lyrik zu lesen.“
Sandig hat für ihr Alter bereits erstaunlich viel gewonnen. Und geschrieben: Im nächsten Frühjahr erscheint nach Hörspielen und Prosaarbeiten wieder ein Lyrikband, ihr dritter, Dickicht. Was gibt es da noch für Ziele? „Am liebsten schreibe ich Gedichte, die sowohl visuell als auch akustisch funktionieren. Aber mein Traum wäre es: Einmal ein Gedicht zu machen, das genauso aussieht, wie es klingt.“
Mit ausgefahrenen Antennen
Andre Rudolph ist eine Ausnahme. Statt in der hippen Südvorstadt oder dem Boheme-Viertel Plagwitz, wohnt er in Zentrum-Nord über einem Asia-Imbiss, in dem die Chinapfanne einsachtzig kostet. Und im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen ist Rudolph auch nicht wegen des Deutschen Literaturinstituts nach Leipzig gekommen, sondern hier aufgewachsen. Er raucht viel und spricht auffallend leise mit sächsischem Einschlag, um dann plötzlich in lautes Lachen auszubrechen.
„Ich habe fast zehn Jahre kein Gedicht geschrieben“, sagt Rudolph, der bereits Anfang der neunziger Jahre als hoffnungsvolles Talent galt, bevor er sich der Philosophie widmete, vor allem der von Johann Georg Hamann, dem „Derrida des 18. Jahrhunderts“, über den er auch promovierte. „Ich dachte: Die Welt braucht keine Gedichte, ich brauche auch keine und ich will auch keine mehr schreiben. Dabei hatte ich wahrscheinlich einfach nur Angst vor einer Existenz, wie ich sie jetzt anfange zu führen.“ Und die wäre? „Schauen, wie gut das mit dem Literaturkarussell läuft und sich nebenher, qua Arbeitsamt, als Textdienstleister selbstständig machen.“ Da scheint jede Angst unbegründet: Rudolphs Debütband Fluglärm über den Palästen unsrer Restinnerlichkeit hat es auf die SWR-Bestenliste geschafft, und vor Kurzem hat er den Meraner Lyrikpreis gewonnen. „Aber“, sagt Rudolph, „in der letzten Zeit sind nur sehr wenig Gedichte entstanden“. Vergangenen März fand er, in einer überfüllten Tram auf dem Weg zur Buchmesse, überhaupt die erste Zeile in jenem Jahr. „Für die erste Zeile muss Funkkontakt bestehen, was jetzt nicht der direkte Beschuss durch Apoll und die Musen sein muss. Es ist eher so ein Zustand passiver Konzentration: Im Zweifel nüchtern, mit anständiger Körperspannung und ausgefahrenen Antennen.“
Ein gefühlvoller Autist
Carl-Christian Elze ist erst vor vier Tagen eingezogen, was man der Wohnung nicht mehr ansieht. Die Einrichtung hat etwas Koloniales, sie geht zum Großteil auf Elzes Vater zurück, der im Zoo arbeitete: ein Löwenfell unter dem Sofa, ein Nilpferdfuß, Perserteppiche, massive Möbel aus dunklem Holz. Einen Hund hat er auch, aus dem Tierheim. Vermutlich ein Straßenhund: spielt nicht, baut sich abends beim Spazierengehen Schlafplätze und gibt die ganze Zeit nicht den geringsten Laut von sich.
„Ich schreibe jetzt erst die Gedichte, die ich immer schreiben wollte“, sagt Elze mit einer leicht brüchigen Stimme, die an Hörbücher erinnert. „Sie sind sehr viel persönlicher. Ich habe keine Angst mehr ungeschützt zu sein, ich habe keine Angst mehr ,Ich‘ zu sagen.“ Elze steht mehrfach mitten im Satz auf, einmal geht er kurz Zigaretten kaufen und nimmt danach den Faden mühelos wieder auf: „Es ist schade, dass viele, die selbst keine Gedichte schreiben, sich von Gedichten einschüchtern lassen, bei denen sie nichts empfinden. Sie suchen den Fehler bei sich“, sagt er nachdenklich. Seine Sätze wirken an manchen Stellen fast einstudiert: „Angst vor Kitsch, Angst vor Pathos, Angst vor zuwenig Intellektualität – und schon wird es krumm oder lau oder viel zu gelehrt.“
Im übernächsten Frühjahr erscheinen 101 Gedichte von Carl-Christian Elze unter dem Titel 101, sein dritter Lyrikband. Er findet, man müsse als Dichter zu seinem Verständigungswunsch stehen. Am besten Menschen gegenüber, die glauben „gegen Gedichtkörper immun zu sein.“ Doch beim Schreiben ist das etwas anderes: „Beim Schreiben darf man nicht ans Publikum denken. Da muss man Autist sein, aber voller Gefühl. Ein gefühlvoller Autist.“
Gnade und Hoffnung
Kerstin Preiwuß wohnt hinter einer Jugendstilfassade, die nichts von der Hektik und Hitze der Leipziger Südvorstadt hindurch lässt. An ihrem großen Tisch aus massiver Eiche, zwischen offener Flügeltür und einem wandfüllenden Bücherregal, fühlt man sich an die konzentrierte Atmosphäre von klimatisierten Bibliotheken erinnert. Es gibt Melonenstückchen und gekühltes Wasser mit Holundersirup. Durch die Erkerfenster kann man den vor Sonnenlicht leuchtenden Park sehen. „Eigentlich ist mir das Arbeitszimmer zu groß und offen“, sagt Preiwuß leise, „ich habe es lieber geschützter, verborgener. So war das auch mit meinen Gedichten. Irgendwann habe ich niemandem mehr erzählt, was ich da mache. Und es ging mir besser damit.“ Einige aber, darunter die Förderer vom Deutschen Literaturfonds, haben es dennoch mitbekommen und ihr für 2010 ein Arbeitsstipendium verliehen.
Doch wie muss man sich ihre Arbeit vorstellen? „Sie ist meistens unsichtbar und passiert ständig. Es ist eine andere Art, Sprache wahrzunehmen, der Sprache zuzuhören.“ Kerstin Preiwuß´ Aufmerksamkeit hat etwas Ausgeruhtes, sie sieht einem in die Augen und spricht dann vom Tod eines nahen Verwandten. „Durch diese Erschütterung bin ich nicht mehr heil, das ist klar. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, etwas davon in die Sprache legen zu können.“ Fast unbeweglich sitzt Preiwuß am Tisch und berichtet von der Gewalt durch Sprache und der Rettung durch sie, während von draußen kaum hörbar das Läuten einer Kirchenglocke dringt. Würde sie sich als religiös bezeichnen? „Ich glaube an die Sprache. Ich glaube an Wörter wie Hoffnung und Gnade und dass diese Wörter etwas Wirkliches transportieren.“ Dann sagt sie, mehr zu sich als im Gespräch: „Wir machen hier etwas, womit uns niemand beauftragt hat, woran wir nichts verdienen, wobei es keine Richtlinien gibt. Wir setzten selbst die Zeit fest, die es braucht. – Was machen wir da eigentlich?“
Hier lesen Sie die lyrischen Werke dieser und anderer junger Poeten aus Leipzig:
Jörn Dege studiert am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und ist Redakteur der
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