Jesus wäre ein zweites Mal gekreuzigt

Bolivien Ein Minendorf am Rande der Anden und der Globalisierung

Die Sonne brennt, anstatt zu wärmen. Die Weite lockt nicht, sie schüchtert ein. Bergkuppe an Bergkuppe ziehen die Höhenzüge der bolivianischen Anden dahin. An einigen Hängen zeigen tiefe, dunkle Löcher an, dass hier der Berg durchwühlt wurde, um ihm zu entreißen, was wertvoll ist, und zu seinen Füßen im Triumph über das vollbrachte Werk riesige Abraumhalden zu hinterlassen.

Als die spanische Conquista in dieser Gegend Mitte des 16. Jahrhunderts Silber suchte und Zinn fand, konnte sie damit wenig anfangen. Das Bergbaurevier entstand erst um 1900, als das Metall von den Industriestaaten gebraucht wurde, und der Mestize Simon Iturri Patiño in dieser Landschaft auf die reichste Zinnader der Welt gestoßen war. Die Entdeckung machte Patiño zum mächtigsten und umstrittensten Bolivianer, den es wohl je gab. Wie kein anderer nahm der Zinnbaron bis zu seinem Tod 1947 auf die Geschicke seines Landes Einfluss. Tausende von Bergleuten mussten in seinen Minen unter miserabelsten Bedingungen ihre Gesundheit, oft genug ihr Leben opfern.

Die Höhle, in der Simon Iturri Patiño vor seinem grandiosen Fund gehaust hatte, um sich vor seinen Gläubigern zu verstecken, liegt nur wenige Meter über dem noch heute genutzten Stolleneingang der Mine "Siglo XX" (20. Jahrhundert) entfernt. Noch zu Lebzeiten Patiños aufgebracht, sollte der Name für eine bessere Zukunft bürgen, eingelöst wurde dieses Versprechen nie.

Ein Kartenhaus, sagt Samuel Vedia, das jeden Augenblick zusammenstürzen kann

Der Mestize Samuel Vedia ist ein Bergmann von der Statur eines Felsens. Seine Füße stecken in hohen, lehmverschmierten Gummistiefeln. Nicht alle Löcher in der groben Hose und dem alten Parka sind gestopft. Die letzte Rasur war flüchtig und liegt schon einige Tage zurück. Auf dem Rücken hängt ein grober Leinensack. Leer ist er jetzt. Voller Erz soll er am Abend sein, hofft Vedia. Er wird in den nächsten zwölf Stunden etwa drei Kilometer weit und 600 Meter tief durch dunkle, kaum gesicherte Stollen kriechen, um Erz aus dem Berg zu schlagen. Der Erlös könnte es ihm erlauben, seine Familie für ein paar Tage oder auch eine ganze Woche zu ernähren.

Seit seiner Kindheit lebt Samuel Vedia im Schatten von "Siglo XX", seit seiner Jugend steigt er in den Schacht, gute Zeiten kennt er nicht, abgesehen vielleicht von den etwas besseren Jahren, als Boliviens Zinnminen nach der Nationalen Revolution von 1952 verstaatlicht wurden. Doch das ist Vergangenheit. Seit 1985 von den USA und besonders dem Internationalen Währungsfonds gedrängt, fügten sich seither alle Regierungen in La Paz einer radikalen Strukturanpassung mit bisher fast 2.100 Wirtschaftsreformen und gerieten so zum Musterschüler der großen Finanzwelt. Streiks der Gewerkschaften, die es hin und wieder gab, wurden mit dem Ausnahmezustand beantwortet, Gewerkschaftsführer in entlegene Urwaldsiedlungen deportiert. Bolivien suchte den Anschluss an die Globalisierung und fand sich wieder an deren Peripherie.

Genau genommen besteht das Schicksal der Minen um "Siglo XX" nicht darin, in die Globalisierung hineingezogen, sondern davon lediglich betroffen zu sein. Das Erz wurden schon immer fast ausschließlich exportiert, wobei auch immer schon die Gewinne größtenteils im Ausland blieben. Da aber nun die Zinnnachfrage auf dem Weltmarkt und so auch die Erträge der Minen zurückgehen, bleibt der Bergbau, bleiben vor allem die Bergleute sich selbst überlassen. Der Staat zieht sich zurück und wartet ab, ohne an irgendeine Unterstützung zu denken.

Folglich hat er seinen Anteil an den Minen von "Siglo XX" abgegeben, so dass mehr als 20.000 Bergarbeiter mit ihren Familien die Region verlassen mussten, um sich seitdem im tropischen Chapare als Kokabauern durchzuschlagen. Etwa 4.000 Mineros gingen nicht und gründeten eine Handvoll Kooperativen, um das Zinn selbstständig aus dem Berg zu sprengen, zu schlagen und zu kratzen - ohne Aussicht auf Investitionen für neue Förder- oder gar Sicherheitstechnik. Vedia sagt, selbst unter Patiño sei es vermutlich besser gewesen. Die Mine sei nur noch "ein Kartenhaus, das jeden Augenblick zusammenstürzen kann. Wir gehen in den Berg und wissen nicht, ob wir ihn je wieder verlassen."

Ihren Sprengstoff kaufen die Bergleute auch heute noch jeden Tag bei den Händlerinnen, die sich in den Ruinen am Stolleneingang niedergelassen haben. Die Indiofrauen tragen dicke, weite Röcke und die zur Tradition gewordenen Bowlerhüte. Das Dynamit gibt es in kleinen Rollen, dazu Fusel in schmalen und Kokablätter gegen den Hunger in großen Plastiktüten. Viel mehr nehmen die Männer nicht mit in den Berg. Der Schnaps wird nicht nur getrunken, um die Sinne zu betäuben, sondern auch geopfert, um El Tio, den Bergteufel, gnädig zu stimmen. Noch bevor sie hinein gehen, wanken ihnen einzelne, erbärmlich graue Gestalten entgegen. Arbeiter, die zwölf Stunden oder länger ohne Unterlass irgendwo in den Hunderte von Kilometern langen Gängen, Stollen und Schächten nach dem Erz gesucht haben. Die Hoffnung über Tage gilt kaum mehr einem anderen Leben als dem in der Mine - zwei Pfund Erz, die pro Tag gefunden werden, müssen reichen, um die Familie durchzubringen.

Ein steiler Pfad führt hinunter in die Wohnsiedlung, der die schlammigen Bergstraßen keinen zuverlässigen Halt mehr geben. Die Baracken der meisten Bergleute sind aus rohem Stein, haben Dächer aus Metall und oft nur ein Fenster. Dazwischen immer wieder kleine gemauerte Becken, aus denen eine dunkle, stinkende Brühe schwappt. Und überall Männer, die mit schierer Muskelkraft und mächtigen, zementbeschwerten Stahlwippen Gesteinsbrocken zerkleinern, um danach das Erz mit Säure heraus zu lösen. Nicht selten sind es auch Kinder oder Jugendliche, von denen diese Arbeit getan wird.

Neben der Minero-Siedlung liegt ein Städtchen namens Llallagua, was in der Indiosprache Quetschua soviel wie "Brustspitzen" heißt und die beiden Hügel oberhalb der geduckten Häuser meint. Ein süßer Name für eine Landschaft voller Bitterkeit. Sogar eine kleine Universität gibt es inmitten der 15.000 Einwohner. Die Bergarbeiter hatten sie in den fünfziger Jahren der Regierung abgetrotzt. Genutzt hat es ihnen nichts. Trotzdem: Llallagua lebt; einen Markt gibt es, viele kleine Läden, mehrere Kneipen, außerdem ein Kino, auch ein Hotel. Von außen wirkt das Gebäude eher schäbig, innen jedoch erzählt eine imposante Holztheke ihre eigene Geschichte. Hundert Jahre soll sie alt sein und selbst der große Simon Iturri Patiño an ihr gesessen haben. Als Spezialität des Hauses wird getrocknetes Lamafleisch geboten, serviert in einem mit greller Fototapete beklebten Speisesaal - wer dort sitzt, schaut stets auf die Südsee, sieht Sonne, Wolken, Strand und Palmen. Hier also ist Träumen erlaubt.

Von draußen dringen Kinderstimmen in den Saal, am Rand des steilen Sträßchens mit dem groben Kopfsteinpflaster sitzen Hotelangestellte, Verkäufer, Schuhputzer und Minenarbeiter, der Jüngste zwölf, die Älteste fünfzehn. Über ihre Rechte diskutieren sie und darüber, wie man sie bekommen kann. Schließlich sind sie stolz darauf, dass in Llallagua einst die Nationale Revolution geboren wurde. Den Fremden fragen sie, was denn die Kinder in Deutschland arbeiten und was ein Schuhputzer dort verdienen kann. Die Antwort wundert sie. "Auf nach Deutschland", lacht Guilberto, Sprecher für die minderjährigen Minenarbeiter und Sohn von Samuel Vedia, dem Bergmann, der selbst so aussieht wie ein Felsenbrocken. Der Vater opfert sich jetzt für Guilberto, damit der eine Ausbildung machen kann und ihm ein Schicksal als Minero auf Lebenszeit erspart bleibt. Hätte es die Rentenreform nicht gegeben, müsste der Vater demnächst nicht mehr in die Stollen kriechen. Doch nun ist die Altersversorgung privatisiert wie in den meisten Nachbarländern Boliviens auch - und nun muss Samuel Vedia weiterarbeiten, bis er 65 ist. Dass er es schafft, hoffen alle, doch keiner glaubt daran. 50 ist er jetzt, so alt wie kaum einer hier am Rande von "Siglo XX". Der Staub der Armut sitzt in seinen Lungen, in seinem Herzen, in seinem Gehirn und beherrscht den Kreislauf, seines Körpers.

Was wäre anders, wäre Domitilla Präsidentin Boliviens? Gar nichts, sagt sie

Gäbe es eine Königin von Llallagua, dann wäre es Domitilla Chungara, die früher, in den Sechzigern und Siebzigern, die Bergarbeiterfrauen führte. Über Domitillas Trainingshose spannt sich geblümter Stoff. Das Gehen fällt ihr schwer, die Zehennägel aber sind lackiert. 65 Jahre ist sie alt. Arm war sie als Kind, arm ist sie auch heute noch. Ihr Leben lang hat sie gekämpft, dass sich etwas ändert, dass die Armen etwas reicher und die Reichen sehr viel ärmer werden.

Der Preis dafür war hoch. Ein ungeborenes Kind verlor sie in den Folterzellen der Armee. Ein anderes starb bei einem Hungerstreik. Ganz oben auf der Todesliste der Streitkräfte stand ihr Name. Für einige Jahre war sie im Exil. Woher hatte sie in all den Jahren die Kraft für ihren Kampf? "Die einfachen Leute verlieren die Hoffnung nie, sie verlieren einmal und wieder und wieder, aber die Hoffnung geben sie nicht auf. Außerdem, ein paar kleine Siege hat es gegeben, aber keinen großen."

Vor kurzem bekam Domitilla Chungara eine Einladung der Regierung. Mit einem Festakt sollte der "Tag der Demokratie" gefeiert werden. Da erinnerte man sich auch in La Paz der Frau, die 1978 einen Hungerstreik begann, der eine Diktatur beendete. Doch die Einladung kam ohne Fahrkarte. Und so fuhr Domitilla nicht in die Hauptstadt. Ihr fehlte das Geld. Was wäre anders, wäre sie Präsidentin ihres Landes? "Gar nichts", sagt sie, "selbst Jesus mit all seinen Wundern hätte keine Chance. Gekreuzigt würde er ein zweites Mal ..."

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