Markiert dieses Urteil den Beginn totaler Überwachung am Arbeitsplatz? Bedeutet es das Ende der Vertrauensarbeitszeit? Oder ist es der erste Schritt heraus aus einer immer entgrenzteren Arbeitswelt? Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jüngst jedenfalls klargestellt, dass Unternehmen in EU-Staaten künftig die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter systematisch erfassen müssen.
Hintergrund des Urteils ist die Klage einer spanischen Gewerkschaft: Die Arbeitnehmervertreter wollten die Deutsche Bank verpflichten, die täglich geleistete Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter vollständig aufzuzeichnen, um die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeiten zu gewährleisten. Sie bekamen recht. Die Richter beriefen sich auf das in der EU-Charta verbürgte Grundrecht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Die systematische Erfassung der Arbeitszeit und ihrer zeitlichen Verteilung würde es Arbeitnehmern erleichtern, gegenüber Arbeitgebern ihre Rechte durchzusetzen, da sie „die schwächere Partei des Arbeitsvertrags“ seien.
Bisher ist es in Deutschland so, dass Arbeitgeber lediglich verpflichtet sind, Überstunden zu erfassen. Nur bei Minijobs und in vereinzelten Branchen wird die gesamte Arbeitszeit aufgezeichnet. In der Zukunft wird sich das ändern, alle Arbeitgeber werden die gesamte Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer dokumentieren müssen. Gut so?
Ja, sagen die Gewerkschaften. Dem Deutschen Gewerkschaftsbund zufolge werde das Urteil helfen, Überstunden ausfindig zu machen. Hierzulande leisteten Beschäftigte 2017 rund 2,1 Milliarden Überstunden, die Hälfte davon unbezahlt. Burn-out ist ein riesiges Problem, Arbeitnehmer davor zu schützen, also mehr als notwendig.
Arbeitgeber äußerten vor allem Befürchtungen angesichts der zusätzlichen Bürokratie, die mit der Erfassung der Arbeitszeit einhergeht. Außerdem sei flexibles Arbeiten mit der Arbeitszeiterfassung schwer zu vereinbaren. Die Vertrauensarbeitszeit, bei der für Angestellte bestimmte Zielvorgaben statt zeitlicher Präsenz im Vordergrund stehen, sei mit dem Urteil „praktisch tot“, so der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Tatsächlich ist bekannt, dass Vertrauensarbeitszeit zu mehr Überstunden führt. Arbeitnehmer arbeiten nur vermeintlich freiwillig mehr, tatsächlich entsprechen sie damit den Erwartungen der Arbeitgeber. Für die Flexibilität, die mit Vertrauensarbeitszeit einhergeht, zahlen sie einen hohen Preis.
Wünschenswert wäre, dass Vertrauensarbeitszeit und Arbeitszeiterfassung sich nicht gegenseitig ausschließen. Die Erfassung der Arbeitszeit bei Vertrauensarbeitszeit könnte enthüllen, wenn kontinuierlich über die Höchstarbeitszeit hinaus gearbeitet wird. In diesem Falle müssten Arbeitgeber möglicherweise mehr Personal einstellen. Wie genau die Aufzeichnung erfolgt, ob mit klassischer Stechuhr, Chipkarte, über den Log-in ins Firmennetzwerk oder per App, muss wohl in jedem Unternehmen spezifisch diskutiert werden. Wer viel zu Hause arbeitet, für den ist eine Erfassung per App wohl die naheliegende Lösung.
Knips! Die Webcam sieht dich
Die Erfassung per App macht vielen aber Sorge, birgt sie doch Risiken der Überwachung und des Datenmissbrauchs. Dass diese Ängste real sind, zeigen Firmen wie Crossover. Das US-amerikanische Personalmanagementunternehmen kontrolliert Arbeitnehmer, indem es alle zehn Minuten ein Foto per Webcam macht und Screenshots sichert, um unter Hinzuziehung weiterer Daten Konzentrationsfähigkeit und Produktivität zu bewerten. In den USA ist so etwas erlaubt. Deutschland ist davon noch weit entfernt. Diskussionen, wie Überwachung und Datenmissbrauch zu verhindern sind, sind jedoch dringend notwendig.
Die Erfassung der Arbeitszeit kann der Forderung ständiger Erreichbarkeit etwas entgegenstellen. Ziel des Urteils ist es, die Arbeitnehmer vor ihren Arbeitgebern zu schützen – und vor sich selbst. Eine App könnte zum Beispiel ein Signal geben, das anzeigt, dass die Höchstarbeitszeit erreicht ist, und die Beschäftigten ermutigen, Feierabend zu machen. In der Großen Koalition zeichnet sich bereits ein Streit darüber ab, wie man auf das EuGH-Urteil reagieren will. Während Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) das Urteil schnell umsetzen will, geht Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) auf Konfrontationskurs. Er befand, das Urteil weise nicht in die richtige Richtung – ein Rechtsgutachten solle klären, ob es überhaupt umgesetzt werden muss. Derweil nutzt Unions-Fraktionsvize Hermann Gröhe (CDU), zuständig für Arbeit und Soziales, den Moment, um die Debatte um eine Überprüfung des Arbeitszeitgesetzes neu zu beleben. Arbeitgeber fordern, das Gesetz an die digitale Arbeitswelt anzupassen. Dies könnte zu einer weiter fortschreitenden Entgrenzung von Arbeit führen. So schwebt etwa dem Präsidenten des Digitalverbands Bitkom, Achim Berg, vor, die tägliche auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit umzustellen und die Mindestruhezeit zu überprüfen.
Momentan gilt für alle Beschäftigten in Deutschland, dass sie bei maximal sechs Arbeitstagen wöchentlich im Schnitt höchstens 48 Stunden arbeiten können. Denn auf 6 Monate gerechnet dürfen 8 Stunden pro vereinbartem Arbeitstag in der Regel durchschnittlich nicht überschritten werden. Innerhalb von 24 Stunden müssen mindestens elf zusammenhängende Stunden als Ruhezeit gewährt werden, innerhalb von sieben Tagen zusätzlich 24 Stunden. Die seit dem EuGH-Urteil in Gang gekommene Diskussion offenbart, wie selbstverständlich unbezahlte Überstunden bisher hingenommen wurden. Das ändert sich jetzt, und das ist erst einmal gut. Die Fragen und Ängste, die sich mit dem Urteil artikulieren, waren ohnehin schon da. Das Urteil ist nur ein Anlass, sich ihnen zu stellen.
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