Genau 57 Jahre nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands und der Befreiung vom Faschismus sollte die neudeutsche, rot-grüne Erinnerungsrhetorik mit der zu gewinnenden Zukunft erfolgversprechend verknüpft werden. Die Begriffe "Nation", "Patriotismus", "Demokratische Kultur", die der SPD-Veranstaltung das Thema gaben, das versprach - angesichts der Sprach-Kombattanten - Zündstoff, so oder so. Denn, wer Begriffe prägt, gewinnt die Zukunft (in Abwandlung einer These eines früheren Kanzlerberaters)!
Der Generalsekretär der SPD, Franz Müntefering, hatte mit seiner Einladung die Gazetten erwartungsschwanger werden lassen. Hier im Willy-Brandt-Haus in Berlin sollte die Zivilgesellschaft sich selbst feiern: die "Dialog- und Kompromissfähigkeit" und die "politische Kultur der Offenheit und der Toleranz". Die "vaterlandslosen Gesellen" von einst sind zum Wir mutiert, "mit Stolz auf unser Land", und "selbstbewusst". Nicht nur die PDS, sondern auch die SPD will "Nation" und "Patriotismus" nicht der gefühligen Definition den Rechten überlassen. "Stolzdeutsche" allüberall.
Die selbstbewusste Nation soll "unserer veränderten Rolle in Europa und der Welt - als eine normale Nation - gerecht werden", hieß es da. Dafür setzt man auch aufs Militärische. Dafür kreierte Rot-Grün gleich zu Beginn ihrer Regierungszeit eine spezifische Gewissenspolitik als eine Art negative Legitimation: "Deutschland" erwachse aus seiner Verantwortung für "Auschwitz" die Pflicht zur militärischen Gewaltanwendung. Positiv wär´s gewesen, hätte u.a. deutsche Außenpolitik gegenüber Jugoslawien eine präventive Politik betrieben, damals zu Beginn der "Wende", Anfang der neunziger Jahre. Die "Lehre" von Auschwitz, wenn es so etwas überhaupt geben kann, hieß einmal, Strukturen einer Gesellschaft so zu bauen, dass von ihr nur mehr Friede ausgehe.
Mit Sehnsucht nach neuem Selbstbewusstsein und Entlastung von Geschichte jedoch ist inzwischen auch in der jungen Generation zu rechnen, ein bisschen Antisemitismus kann da nicht schaden, denn das gilt in manchen Kreisen - auch der Linken - mittlerweile als "Normalität". Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit soll beendet, ein "gesundes Nationalbewusstsein" entwickelt und auch militärisch "in der Welt wieder eine ganz normale Rolle" gespielt werden, das jedenfalls ist nach einer Studie unter Studenten der Universität Essen mehrheitsfähig. In aller Freiheit ein bisschen anti-israelisch oder antisemitisch daherreden, wie Bernd Ulrich im Tagesspiegel meinte, könnte "Mindeststandards" verwischen. Doch ist das längst und gerade unter Rot-Grün geschehen: Die neue nationale Unbefangenheit wird gerade dadurch gefördert, dass der Bundeskanzler in seiner Berliner Rede zum 8. Mai und zu Walser zunächst feststellt, wie ein nationalistisches Verständnis von Nation und Patriotismus zum "größten Verbrechen im 20. Jahrhundert" geführt hat, zum "Völkermord der Deutschen an den Juden", zum "von Deutschen angezettelten Krieg", dem "verbrecherischen Krieg". Das war lange unzeitgemäß, heute ist es floskelhafte Voraussetzung, nicht mehr hinterfragte Voraussetzung für das neue Normalitätsparadigma und nicht mehr für eine Gesellschaft im Zeichen des Anti-Faschismus. Die NS-Verbrechen sind historisiert oder gar unbekannt. Es geht gar nicht mehr um die Bewertung des 8. Mai 1945, sondern es geht darum, "Deutschland" neu zu erfinden. Dass der Bundeskanzler seine Sozialdemokratie als die guten Patrioten erscheinen lässt, gehört zu der Art der Legendenbildung, die gebraucht wird, um störende Geschichtsbilder zu löschen, oder wie konnte sich die gute alte, internationalistische SPD 1914 auf die Seite des nationalen Imperialismus schlagen?
Würde man Walsers Redeflusslogik folgen, wäre auch die SPD schuld am deutschen Faschismus 1933 gewesen, und an Auschwitz, denn der Erste Weltkrieg war auch eine Ursache in dem Bündel und die SPD hat eben nicht Widerstand geleistet, sondern sich nationalem Patriotismus untergeordnet. Doch dürfen wir froh sein, dass sich Walser korrigierte, indem er den unaufhaltsamen Gang der Geschichte: Erster Weltkrieg, Versailler Vertrag, 1933 irgendwie relativierte. Aber eben nur relativierte. Denn für ihn ist klar - und das ließ er alle deutlich spüren, dass er seine Frankfurter Friedenspreisrede keineswegs selbstkritisch befragt, sondern im Gegenteil sie gewissermaßen verfeinert und präzisiert hat. Für Walser ist und bleibt "Geschichte" Gefühls- und Gewissenssache, gewissermaßen eine dauernde Aufgabe nationaler Patrioten.
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