Dass wir das noch erleben durften! Allerdings hatten wir uns die Umstellung ja etwas aufregender vorgestellt. All das Getue um dieses längst überfällige Aufheben eines inhumanen, drakonischen Gesetzes hatte ein lautstärkeres Markieren des Zeitpunktes seiner Aufhebung erwarten lassen. Was haben sie dagegen gewettert, die Konservativen, Teile der Kirche, Teile der Labour-Partei. Scharfe Debatten in Guardian, Times, Telegraph und Independent; hanebüchene Horrorszenarien von gesellschaftsmoralischen Höllenfahrten in der berüchtigten britischen Regenbogenpresse. Und dann? Am Stichtag selbst redet keiner von der neuen Regelung. Jedenfalls nicht in unserem Stamm-Pub. Seit wenigen Wochen ist in Großbritannien endlich die Homo-Ehe legalisiert, und kaum einen am Tresen interessiert´s.
Sollte sich hier allerdings einer dazu äußern, geschähe dies wohl unter einiger Erregung. Denn unser Pub wird, wie die meisten anderen in der Gegend, vornehmlich von Iren aufgesucht, und es handelt sich dabei um Iren, wie das Klischee sie kennt: äußerst trinkfest und streng katholisch. Lange sitzen sie am Tresen. Um acht kommt manchmal die Frau in den Pub, um den Mann zum Abendessen abzuholen. Nach dem Abendessen kommt er dann wieder hereinspaziert. "Wie schön! So authentisch", dachten wir - typisch Nord-Londoner Medienschaffende - bei unserem ersten Pub-Besuch und erkoren ihn sofort zu unserem local. So nennt man seine Stammkneipe in Großbritannien, wobei der local, wie die Bezeichnung suggeriert, in unmittelbarer Nähe der Stammgast-Wohnung liegen muss für die Überbrückung der lästigen Stunden zwischen closing hour und 12 Uhr Mittags tags drauf. Leute mit Stamm-Pubs außerhalb ihrer Wohngegend sind wie Nord-Londoner Medien-Schlaffis, die behaupten, Manchester-United-Fans zu sein. Anders gesagt: Mittelklässler, die beim Versuch, Empathie für so genannte Arbeiterkultur unter Beweis zu stellen, total daneben greifen. Anstatt eines reichen Clubs in einer Arbeiterstadt müsste man sich, um Authentizität bemüht, natürlich den lokal ansässigen Arbeiterclub aussuchen, in diesem Falle Tottenham Hotspur.
Wie dem auch sei: Unlängst sind jene lästigen Stunden des nächtlichen Darbens verkürzt worden. Bekanntlich wurde das berühmte licensing law geändert, das einem Abend für Abend um zwanzig nach elf, zwanzig Minuten nachdem die Last-Orders-Glocke ging, jenes unvergessliche Bierstürzen unter der strengen Supervision genervter Barangestellter bescherte. Um diesen Umstand (und die Homo-Ehe) zu feiern, sind wir heute Abend zu einem ordentlichen Zug durch die Gemeinde angetreten. Um herauszufinden, wie umwälzend die Pub-Revolution denn nun wirklich ist.
Es lässt sich kaum ein Unterschied feststellen. Tatsächlich ist die Zahl der Pubs, die sich um eine Lizenz für längere Öffnungszeiten beworben, diese dann auch erhalten haben und nun tatsächlich von ihr Gebrauch machen, relativ gering. Wie sich im Laufe des Abends herausstellt, existieren dafür verschiedene Gründe. Unser local zum Beispiel betreibt - und hier liegt neben dem authentisch irischen Working-Class-Ambiente unser Hauptgrund, ihn zu frequentieren - das so genannte lock-in, jene andere große Tradition der Pub-Kultur. Anstatt um elf die Glocke zu läuten, schließt man die Türen nach draußen ab, dreht die hellsten Lampen aus und trinkt gemütlich weiter. In vielen der Etablissements, die diesen Brauch pflegen, kann der verspätete Eingeweihte sogar nach elf Uhr Einlass erhalten, indem er einen komplexen rhythmischen Code ans Fenster klopft. Schön ist es, nach vereinbartem Klopfzeichen eilig herein gewunken zu werden und sich im Schummerlicht niederzulassen. Man fühlt sich, wie man sich zuletzt während einer spannenden Stelle auf einer Fünf-Freunde-Kassette gefühlt hat und glaubt zu ahnen, wie Betretern einschlägiger Hinterzimmer während der amerikanischen Prohibitionszeit zumute gewesen sein muss. "Eine Lizenz für längere Öffnungszeiten kostet Geld, und wir haben, nun ja, wenig Grund, für so etwas Geld auszugeben", sagt die Frau des Besitzers, unter deren Quasi-Matriarchat bei aller Trunkenheit Ruhe und Ordnung immer gewahrt werden. Sie zwinkert und schiebt uns noch ein Guinness zu.
Doch müssen wir schnell austrinken, um rechtzeitig zur nächsten Station zu gelangen. Nach einem Pub, in dem sich überhaupt nichts geändert hat, geht es nun zu einem, in dem sich zumindest theoretisch irgendwann etwas ändern könnte. Der Besitzer des St. John´s, den wir nun ansteuern, hat sich zwar eine Lizenz besorgt, lässt seine Gäste jedoch nach wie vor um 23:20 Uhr hinausjagen. Wieso? Ein Barmann behauptet: "Wir haben einen bestimmten Ruf und ein bestimmtes Publikum. Wir möchten keine andere Art von Leuten anziehen, solche, die spät nachts noch kommen würden. Sie wissen schon." Solche wie uns also, denken wir insgeheim verwundert. Tatsächlich besteht das St. John´s-Publikum eher aus Nord-Londoner Medienschaffenden. Hat der Barmann vielleicht Angst vor spät eintrudelnden irischen Bauarbeitern? Die kommen bestimmt nicht hierher, die bleiben alle drüben im Matriarchat. Und warum eine Lizenz erkaufen, wenn man sie gar nicht benutzt? Ein Stammgast am Ecktisch weiß: "Um die Ecke gibt es einen Pub mit sehr ähnlichem Ambiente und sehr ähnlichem Zielpublikum, der jetzt bis Mitternacht auf hat. Da werden die hier früher oder später nachziehen müssen. Momentan läuft ihr Geschäft noch gut, da müssen sie nicht den Aufwand der längeren Öffnungszeiten auf sich nehmen. Generell finde ich es gut, dass durch das neue Gesetz mehr Flexibilität entstanden ist."
Mehr Flexibilität? Um das Jahr 1800 herrschte in der britischen Trinkkultur Flexibilität. Die gehobeneren Klassen ergötzten sich am Wein, während die einfachere Bevölkerung unbekümmert Gin konsumierte. Letzterer war billig; sein Verkauf war praktisch unlizenziert und konnte spät nachts stattfinden. Mit der fortschreitenden Industrialisierung änderte sich das Verständnis von Arbeitszeiten. War in der Agrikulturgesellschaft bis dato der "Heilige Montag", an dem Landarbeiter ihren Wochenendrausch ausschliefen, anstatt zur Feldarbeit zu erscheinen, eine gängige Einrichtung, wurde nun von präzise planenden Fabrikbesitzern präzise Einhaltung der Schichtzeiten gefordert. Mit Beginn der viktorianischen Ära gewann folgerichtig die so genannte Temperenzlerbewegung an Einfluss. Teils ökonomisch-utilitaristisch, teils pietistisch motiviert, sahen die Temperenzler ihre Mission im Eindämmen der Trinkkultur in der Arbeiterklasse. Tatsächlich wurde das Temperenzlertum zum Austragungsort des Klassenkampfes, als innerhalb der Arbeiterbewegung ähnliche Anti-Alkoholismus-Gruppen gebildet wurden, die ihrerseits Trinkverbote für die oberen Schichten forderten. Durch das 19. Jahrhundert hindurch experimentierte man mit verschiedenen Modellen der Besäufnisverhinderung; mal wurden Steuern erhoben, mal wurde versucht, Bierkonsum zu fördern, um die Bevölkerung vom als sehr viel verheerender wirkend geltenden Gin fortzulocken. All diese Versuche kulminierten während des 1. Weltkriegs im ersten licensing act, demzufolge die Pubs bereits um 21:30 Uhr zu schließen hatten. Nach Abflauen der Kriegswirren wurde die closing hour bald auf 23:00 Uhr festgelegt. Und da blieb sie bis vor ein paar Wochen.
Doch die Leute soffen trotzdem. Sie gingen früh am Abend, direkt nach der Arbeit und das Abendessen auslassend, in den Pub. Um kurz vor elf bemerkten sie, dass es ja schon kurz vor elf sei und jeder bestellte sich noch zwei Pints. Das Bierstürzen folgte, dann torkelten alle gleichzeitig auf die Straße, gerieten aneinander und prügelten sich. Da halfen selbst die vielen öffentlichen Überwachungskameras nichts, von denen es in Großbritannien mehr als irgendwo sonst in Europa gibt. Wer betrunken ist, vergisst leicht, dass er überwacht wird und zur Rechenschaft gezogen werden kann. Die Pub-Betreiber indessen freuten sich über die Tatsache, dass der fast alle anderen europäischen Länder übertreffende britische Bierkonsum in kürzerer Zeit als irgendwo sonst stattfand. So lässt sich leicht erklären, dass - als sich die New-Labour-Regierung schließlich dazu durchrang, das 23:30-Uhr-Mengengewaltpotenzial durch flexiblere Öffnungszeiten zu verringern - wenige Wirte entsprechend reagierten.
So ist es denn nicht weit her mit der Flexibilität. Das medial vielfach beschworene 24 hour drinking beschränkt sich auf Supermärkte, für die die Elf-Uhr-Deadline bislang ebenfalls galt. Die meisten Pubs und Bars haben sich um eine ein- bis zweistündige Verlängerung beworben. Vielen von ihnen blieb die erweiterte Lizenz versagt, da sie sich in Wohngegenden befinden. Dennoch gelang es uns relativ mühelos, ein Etablissement zu finden, in dem wir unser heiß ersehntes Kurz-vor-Mitternacht-Bier trinken konnten. Das Publikum bestand aus jungen Hipstern. Erstaunlich war allerdings, dass uns ein studentenhaft gepiercter Jüngling erklärte, rund um die Uhr trinken zu dürfen, sei ihm "zu exzessiv". "Freund der Nacht", dachte ich mir, nicht mehr ganz nüchtern, "du sollst doch in der Kneipe herumhängen wollen, bis, wie die Engländer sagen, die Kühe nach Hause kommen! Until the cows come home! Du Temperenzler, du!"
Die Warnglocke erscholl eine Stunde später als gewohnt. Wir bestellten zwei Pints. Viel hat sich nicht geändert. Aber immerhin: Bis vor kurzem hätte eine Homo-Hochzeitsgesellschaft nicht um Viertel vor zwölf in einem Pub auf die Frischvermählten anstoßen können.
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