Vor dem Schulhaus klettern Kinder auf Bäumen, spielen Fußball, schrauben an Fahrrädern, füttern Hühner oder harken den Park. Das Gelände liegt zwischen Saint-Maurice und Le Roc im waldreichen Département Drôme, dessen Berge wie die Zähne einer Säge in den Himmel ragen. Die Schüler sind Erben einer großen Tradition, sie leben und lernen in einer Anstalt der Reformpädagogik. Wer einen Blick ins Gästebuch wirft, stellt fest, dass sich darin berühmte Künstler verewigt haben. Darunter Schriftsteller wie Louis Aragon und Elsa Triolet. Mitten im Krieg haben sie ihren „Dank an die Feen von Beauvallon“ niedergeschrieben. Diese Schule an der Peripherie der Kleinstadt Dieulefit in der Provence sollte zu einem vorübergehenden Refugium während ihrer Odyssee durch Südfrankreich werden. Sie waren auf der Flucht vor deutschen Besatzern und französischen Kollaborateuren – „als ob der Arm des Würgeengels nach uns griff“, wie Aragon schrieb.
Uraltes Ketzerland
Eine Gruppe von Pädagogen aus Deutschland ist sieben Jahrzehnte später zu Besuch, beobachtet die Kinder, wandert zwischen Werkstätten, Internat und Waldrand, um sich kundig zu machen. Was die Gäste sehen, ist eine Lehranstalt, die – wie es ein zeitgenössischer Bericht aus den vierziger Jahren vermerkt hat – ein „Paradies der Kinder mit ihrem Lachen, Singen und Tanzen“ sein wollte. Was die Besucher nicht sehen, ist das andere Gesicht dieses Ortes, der „Hort des Widerstands für Verletzte, Flüchtlinge und Partisanen. Und über allem das Licht der Freiheit“, wie es Aragon und Triolet während der bedrückenden Jahre der Okkupation und des Regimes von Vichy empfunden haben.
Dieulefit im Tal des Jabron gilt in Frankreich als uraltes Ketzerland und ist seinem Ruf bis heute treu geblieben. So erhalten auch Protestanten einen Platz auf dem städtischen katholischen Friedhof. Der alte Wärter dort muss nicht lange nachdenken und führt zu einem verwitterten Grab, in dem Marguerite Soubeyran neben ihrer Lebensgefährtin Catherine Krafft bestattet ist. Beide waren einst Gründerinnen der Reformschule von Beauvallon. Marguerite – erzählt der Wärter – stammte aus einer Hugenotten-Familie, sie habe der protestantischen Minderheit im Ort angehört. In deren Geschichte seien Verfolgung und Flucht gewissermaßen eingraviert und aus Gründen des Überlebens mit der Weisheit des Schweigens verbunden.
Die autoritären Gepflogenheiten des französischen Schulsystems überwindend, bauten Marguerite Soubeyran und Catherine Krafft eine Lehranstalt auf, bei der ihnen eine demokratische Kinderrepublik vorschwebte, gelegen in der Provence zwischen Steineichen und Oleander. Auf der Terrasse hängt noch die Glocke, die einst Schüler und Lehrer zum Essen oder Unterricht rief. Während des Krieges waren es mehr als tausend Menschen, die am Internat von Beauvallon anklopften und um Aufnahme baten. Aber nicht nur hier, auch im Hôtel de Ville von Dieulefit wurde damals ein rühmenswertes Kapitel der Résistance geschrieben.
Das stolze Gebäude in Weiß, der Farbe des Klassizismus, war vor sieben Jahrzehnten gleichfalls ein Ort der Solidarität mit den Verfolgten. In einem Büro des Rathauses saß Jeannette Barnier, eine Sekretärin, die sich ewigen Ruhm als Passfälscherin erworben hat. Was damals geschah, schilderte sie viele Jahre später so: „Es war im Januar 1942, das neue Jahr hatte gerade begonnen. Da kam Marguy Soubeyran, die Lehrerin, ins Rathaus und wollte mit mir sprechen. Sie habe da ein Formular, das sei bereits ausgefüllt. Auch das Foto habe sie schon eingeklebt. ‚Du sollst wissen, dass alle Angaben falsch sind‘, gestand sie mir. ‚Aber du musst mir den Antrag unbedingt abstempeln. Sonst ist ein Mensch in Lebensgefahr.‘“
Jeannette tat, worum sie gebeten wurde, zunächst zweifelnd, dann aus Überzeugung. Bis zum Ende des Krieges habe sie „alles in allem 1.300 falsche Papiere“ ausgestellt, erzählte sie nach ihrer Pensionierung. Bearbeitet und abgestempelt wurden die rettenden Dokumente unter den Augen ihres Chefs, des Bürgermeisters. An jenem Tag im Jahr 1942 begann, was in Dieulefit bis heute „das Wunder des Schweigens“ genannt wird. Gleichsam eine zivile Omertà, eine Kumpanei der Guten, aber auch ein Ding der Unmöglichkeit. Die Falsifikate wurden schließlich im Rathaus fabriziert, auf offener Bühne sozusagen, am Arbeitsplatz von Jeannette und mit dem Bürgermeister im Büro daneben. Der aber ließ sie gewähren. Der pensionierte Colonel kam zwar als Anhänger von Marschall Pétain ins Amt – der Galionsfigur des Vichy-Regimes, das über 70.000 Juden an Nazi-Deutschland und damit dem sicheren Tod in Auschwitz auslieferte –, aber er sah weg. Im Nachhinein bescheingte ihm Jeannette einen seltenen Defekt, den sie „freiwillige Blindheit“ nannte. Ein Befund, der für die damaligen Bewohner von Dieulefit insgesamt gelten konnte.
Welch ein Wiedersehen
Für all das gibt es einen lebenden Kronzeugen: Jean Morin, inzwischen 85 Jahre alt. Er erzählt, es habe während der Besatzungszeit in der Stadt wirklich keine einzige Denunziation gegeben. Woraus zu schließen sei, dass in Dieulefit Zivilcourage als etwas galt, das dem Ideal Fraternité der Revolution von 1789 sehr nahekam. Morin berichtet, wie eines Tages mitten im Krieg ein Junge namens Isaak Fabrikant aus Antwerpen in sein Elternhaus kam, ein Flüchtling, völlig auf sich allein gestellt und in Todesnot. Unauslöschlich bleibt Morins Erinnerung, wie Jeannette Barnier aus Isaak Fabrikant François Fabricant machte. Ihm fällt noch ein, dass François, der wie sein eigener Bruder hieß, in der Familie deshalb Isi gerufen wurde. Im zurückliegenden Jahr, fügt Morin mit bewegter Stimme hinzu, sei Isaak nach 66 Jahren das erste Mal wieder zu Besuch in Dieulefit gewesen. Mit Kindern und Enkeln kam er aus Israel – welch ein Wiedersehen.“
Jean Morin sind aus jener Zeit auch zwei Knaben im Gedächtnis geblieben, die Zwillinge Georg und Heinrich Springer, seinerzeit ebenfalls zwei Mitschüler. Ihr Vater sei Max Springer gewesen, bis 1933 Historiker an der Universität Heidelberg, dann von den Nazis vertrieben. In Dieulefit habe er sich mit Vorträgen durchgeschlagen – ein deutscher Professor, dessen Familie in Berlin zu Hause war, wo die Großmutter einen Salon geführt hatte, in dem einst Künstler wie die Maler Max Liebermann und Lovis Corinth oder Intellektuelle wie der Soziologe Werner Sombart verkehrten – eine verlorene Welt. Aus dem Klassenkameraden Georg wurde später Morins Hausarzt Dr. Georges Springer mit einer Praxis in Dieulefit, wo er, von vielen geschätzt, sein Leben lang Patienten behandelt hat.
Und dann kommt Morin nochmals Jeannette Barnier in den Sinn. Deren Mutter – sie führte vor 70 Jahren einen Kindergarten – habe ebenfalls ein bedrohtes Kind aufgenommen – Cécile Rosenbaum aus Frankfurt/Main. Um sie vor der Gendarmerie und den Milizen zu schützen, bekam die Kleine von Jeannette gleichfalls eine neue Identität verpasst. In ihren Papieren stand nun Cécile Roman. Unter die Dächer der Schule von Beauvallon oder der Pensionen, Privathäuser und Sanatorien in Dieulefit haben sich während des Zweiten Weltkrieges Philosophen und Musiker aus ganz Europa geflüchtet, dazu Dichter und Wissenschaftler, Juden und Christen, Republikaner und Kommunisten. Jeder von ihnen bereit, sein Wissen unter die Einwohner zu bringen. „Im besetzten Frankreich“, schrieb kürzlich die Autorin Anna Tüne, „gab es drei intellektuelle Zentren: Paris, Lyon und Dieulefit.“
Jean Morins Vater wurde später von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Genauso wie Marguerite Soubeyran, Catherine Krafft und Jeannette Barnier und drei weitere Persönlichkeiten aus Dieulefit. Welche Kleinstadt in Frankreich kann in ihrer Ahnengalerie schon sieben Bürger vorweisen, für die in Jerusalem ein Baum gepflanzt wurde?
Johannes Winter ist Historiker und freier Autor mit zahlreichen Veröffentlichungen zur NS-Zeit
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