Die freudlosen Stadthalter

Irak Kurdische Militärs werden erst gegen die Dschihadisten der ISIL vorgehen, wenn sich eine Zerstörung des Zentralstaats anders nicht mehr verhindern lässt
Ausgabe 28/2014

Der ältere Herr in Tarnuniform mit den goldenen Sternen auf den Schultern steht auf einem frisch aufgeworfenen Erdwall. Er zeigt in die Richtung, in die auch das Kanonenrohr seines betagten Kampfpanzers russischer Bauart weist. Auf der anderen Seite des Kanals, an dem sich die Peschmerga-Einheit verschanzt hat, dort steht der Feind. Die Kämpfer der Organisation Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIL) liegen dort in Stellung. Und scheinen sich auf einen Angriff vorzubereiten. Doch sicher ist das nicht.

Je unaufhaltsamer der irakische Staat zerfällt, desto mehr geht für die Kurden im Norden ein lang gehegter Traum in Erfüllung: Sie sind nach dem Vormarsch der Dschihadisten und der Einnahme von Mossul ihrerseits in die Ölstadt Kirkuk vorgerückt. Sie fiel den Peschmerga-Einheiten eher kampflos in den Schoß, da sich die Präsenz der Nationalarmee angesichts der anrückenden ISIL-Kämpfer in wenigen Stunden erledigt hatte. Die Soldaten machten sich aus dem Staub – die Peschmerga sicherten Kirkuk und Umgebung.

Zurückgelassene Geländewagen parken vor der Parteizentrale der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) im Zentrum der Stadt. Parteiführer Aso Mamand, in olivgrüner Pluderhose und Uniformjacke, sitzt im wohltemperierten Konferenzraum und nippt an einer Wasserflasche. Er habe einen deutschen Pass und eine Zeit lang in Bayern gelebt, teilt er mit. Nun sei er der Regionalchef einer der beiden kurdischen Regierungsparteien und für die Geschicke der Erdölmetropole mitverantwortlich.

Gegenseitiger Respekt

Momentan habe man wenig zu befürchten, es gebe keine Gefechte, zumindest nicht in der Gegend um Kirkuk. „Für mich ist es gar keine Frage, dass die Extremisten der ISIL und ehemalige Gefolgsleute Saddam Husseins gemeinsame Sache machen. Für den Augenblick zumindest. Es gibt klare Hinweise unseres Geheimdiensts.“

Derzeit kontrolliert die kurdische Regionalregierung im Nordirak auch die ertragreichsten Ölfelder des Landes. Wer jedoch erwartet hat, dass die Kurden deshalb in einen großen Freudentaumel verfallen, wird enttäuscht. Auch weist Mamand die Erwartung zurück, dass Kirkuk nun die Hauptstadt von Irakisch-Kurdistan werde. Er sei nicht dafür, die Gunst der Stunde zu nutzen, um Kirkuk permanent kurdischer Autorität zu unterstellen. „Ich bin nicht glücklich mit der Situation.“ Im Gegenteil, er sei in Sorge um den Irak, lautet die etwas unverhoffte Aussage. Andere ranghohe kurdische Politiker wie Masud Barzani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan, lassen keinen Zweifel am Willen zum eigenen Staat.

Auf die Frage, ob er davon ausgehe, dass die Tage des irakischen Staats gezählt seien, meint Mamand, der jetzige Konflikt werde zwischen Schiiten und Sunniten ausgetragen. Das klingt fast so, als wären die Kurden unbeteiligte Dritte und würden Kirkuk nur deshalb kontrollieren, weil die Zentralregierung hier vor den anrückenden Extremisten kapitulieren musste. „Kirkuk hört weiter auf die Zentralregierung, auch wenn die gerade wenig von sich hören lässt“, fasst Aso Mamand zusammen. Als Beweis führt er an, dass die reguläre Polizei nicht ausgetauscht worden sei. Sie unterstehe weiter dem Innenminister in Bagdad. Allerdings lässt Mamand die Frage unbeantwortet, ob sich die Kurden wieder zurückzögen, sollte sich die Lage beruhigen.

Auch wenn der Versuch, die Kurden als Partei zu sehen, die wider Willen in einen Konflikt geraten sind, der den Irak zerreißt, eigenartig anmutet, trifft das aus militärischer Sicht durchaus zu. Es gab zwischen den Peschmerga-Kämpfern und ISIL-Verbänden bisher kaum Zusammenstöße. Während Erstere sich auf der rechten Seite des Tigris hinter Erdwällen verschanzt halten, rücken die ISIL-Truppen am linken Flussufer entlang des Highways 1 weiter vor, weiter nach Südosten, weiter in Richtung Bagdad. ISIL-Kommandeure und Saddam-Loyalisten scheinen zu wissen, dass die Peschmerga-Einheiten eine vorzügliche Streitmacht bilden, deren Mitglieder eine hohe Moral auszeichnet. Sie sind nicht so leicht in die Flucht zu schlagen wie die Soldaten der irakischen Armee.

Das kurdische Autonomiegebiet bekommt die Folgen des Waffengangs dennoch zu spüren: Man musste zusätzlich zu den etwa 225.000 Flüchtlingen aus dem benachbarten Syrien noch einmal fast 300.000 Menschen aufnehmen, die sich aus dem von der ISIL besetzten Mossul und der Provinz al-Anbar gerettet haben. Der Nordirak wurde damit zur Zuflucht von mehr als einer halben Million Hilfsbedürftigen. Und das bei einer Gesamtbevölkerungszahl von knapp fünf Millionen.

Aso Mamand hat während des Gesprächs in Kirkuk betont, dass seine Stadt für alle vorübergehenden Bewohner Sicherheit bieten wolle, nicht nur für Kurden, ebenso für Araber und Turkmenen. Es wäre nicht klug, so Mamand, wollten sich die Kurden zu Alleinherrschern aufschwingen und Kirkuk ohne Einverständnis der anderen Bevölkerungsgruppen führen. Auch die hätten im Notfall ihre Milizen.

Unerkannt entkommen

Dank der bisherigen regionalen Stabilität haben die Kurden nördlich des 36. Breitengrades beachtliche Gewinne aus dem Ölgeschäft ziehen können. Es gibt Verträge mit westlichen Unternehmen, die einen sicheren Absatz garantieren. Im Juni sollen trotz der Staatskrise fast 200.000 Barrel durch die Pipeline in Richtung des türkischen Ölterminals Ceyhan am Mittelmeer gepumpt worden sein. Andererseits fehlt den erfolgsverwöhnten, geschäftigen kurdischen Händlern plötzlich das restirakische Hinterland für die Versorgung mit Treibstoff. Rohöl kann man bekanntlich nicht tanken. Es muss raffiniert werden – zu Diesel, Benzin oder Kerosin. Nur stehen in der Raffinerie von Baidschi – etwa 200 Kilometer nördlich von Bagdad – seit Tagen die Anlagen wegen der andauernden Kampfhandlungen still. Die Folge ist Benzinmangel, in Kirkuk ebenso wie in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan. An den Tankstellen beider Städte stauen sich die Autos kilometerlang und in mehreren Reihen nebeneinander. Wartezeiten von einer Nacht und einem Tag sind normal. Flugzeuge der Gesellschaft Iraqi Airways, die in Erbil starten, müssen wegen Treibstoffmangels in Ankara zwischenlanden, damit sie in Richtung Europa weiterfliegen können. Der Unmut in der Bevölkerung wächst. Es kursieren Gerüchte, Benzin werde tonnenweise und illegal in die Millionenstadt Mossul verschoben und komme dort den neuen Herren der ISIL zugute.

An einer Brücke über den Kanal am Highway 19 in Richtung Baidschi steht der für den Frontabschnitt zuständige Offizier und warnt vor der Weiterfahrt. Die irakische Fahne, die hier noch vor wenigen Tagen wehte, haben er und seine Männer eingeholt. Stattdessen weht nun die Flagge der Kurdischen Autonomie über dem Checkpoint, in dessen Umgebung reichlich die Uniformen irakischer Soldaten herumliegen. Offenkundig wurden sie auf der Flucht als Ballast empfunden, dessen man sich entledigen sollte. Wohl auch, um unerkannt entkommen zu können.

Die Kurden befehligen die einzige Streitmacht in der Region, die der Angriffswucht der Islamisten standhalten kann, wenn es darauf ankommt. Wie viele Peschmerga-Kämpfer im Abschnitt südwestlich von Kirkuk stationiert sind, will der Offizier aus Sicherheitsgründen nicht sagen. Nur so viel, von schweren Gefechten sei diese Gegend bislang verschont geblieben. Man warte ab und vermeide eine Offensive. So entsteht der Eindruck, die Kurden wollen der Regierung in Bagdad weder bedingungslos Gefolgschaft leisten, noch haben sie sich komplett abgewandt. Schließlich konnte US-Außenminister John Kerry bei einem Treffen in Erbil Masud Barzani überreden, Sondierungen über eine mögliche neue Zentralregierung nicht nur als interessierter Beobachter zu verfolgen, sondern sich daran direkt zu beteiligen. Doch muss ein gänzlich souveränes Kurdistan deshalb weiter warten?

Aso Mamand meint, trotz des erwirtschafteten Wohlstandes und der erlangten Teilautonomie bleibe die Abhängigkeit vom Rest des Iraks eine Tatsache. Deshalb dürfe der nicht völlig in Chaos und Anarchie versinken. „Wir wollen keinen Bürgerkrieg“, was so viel heißt wie: Wohin das führt, haben wir in Syrien gesehen. Es würden uns Jahrzehnte verloren gehen.

John Dyfed Loesche hat zuletzt aus den Kurdenregionen in Nordsyrien berichtet

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