Knapp hat Präsident Hugo Chávez im Dezember ein Verfassungsreferendum verloren. Eine Absage an die "Bolivarische Revolution" Venezuelas war damit nicht verbunden, denn auch die aktuelle Magna Charta - 1999 per Referendum beschlossen - erlaubt eine fortschrittliche Politik. Dazu gehört, die Bevölkerung systematisch an der Macht teilhaben zu lassen, indem kommunale Räte staatliche Aufgaben übernehmen. Wie das funktioniert, beschreibt John Riddell in einem Text, den wir aus der amerikanischen Zeitschrift Monthly Review dokumentieren.
"Wenn wir über Sozialismus reden wollen", sagt Argenis Loreto, "müssen wir erst die dringendsten Bedürfnisse der Menschen erfüllen: fließendes Wasser, schneller Zugang zu gesundheitlicher Fürsorge und Wohnraum". Loreto ist Bürgermeister in der venezolanischen Gemeinde Libertador (Bundesstaat Carabobo), er sei für Menschen verantwortlich, sagt er, "die zu 90 Prozent in Armut leben". Dies zu ändern, sei die erste Aufgabe. Vor acht Jahren - im zweiten Jahr der Bolivarischen Regierung - erstmals gewählt, habe er feststellen müssen, dass "die Menschen über keinerlei Mittel verfügten, auf ihre Lage Einfluss zu nehmen".
Diese Erkenntnis, bezogen auf ganz Venezuela, hatte Hugo Chávez veranlasst, zur Bildung so genannter Nachbarschafts- oder kommunaler Räte aufzurufen - sie sollten der Embryo eines neuen Staates sein. Libertador war eine der ersten Gemeinden, die ihn austrug.
Mit ihren fast 200.000 Einwohnern liegt die Kommune in einer hauptsächlich ländlich geprägten Gegend. Wer Arbeit hat, ist im nahen Valencia, im Kernland Venezuelas, in kleinen Privatbetrieben beschäftigt. Als wir im Fond eines Pickups über ruinierte Straßen ruckeln, sehen wir einen verwüsteten Bezirk, was nicht die Folge einer Naturkatastrophe, sondern jahrzehntelanger Vernachlässigung zu verdanken ist.
"Die Straßen hier waren immer schon erbärmlich", meinte Félix Hernández, der zur Gemeinderegierung gehört. "Strom gab es einen Tag oder zwei, dann fiel er aus. Das Gesundheitswesen war schlecht organisiert, die Wasserversorgung völlig chaotisch." Appelle an die Stadtverwaltung blieben reine Zeitverschwendung. "Das war entsetzlich", ergänzt Virginia Diaz, auch sie gehört heute zur lokalen Exekutive. "Wir kamen mit unseren Petitionen, sie hörten uns an und stimmten unseren Beschwerden zu. Doch es passierte nichts. Und als wir erneut vorsprachen, wollten sie noch nie von uns gehört haben und wussten von nichts. Das war so sinnlos wie das Euter eines Stiers. Das sorgte für viel Apathie, denn das Volk hatte sich überzeugen lassen, dass es nicht regieren könne."
"Es kann keine Revolution ohne Schönheit geben", sagt Fidel Hernández
Bürgermeister Argenis Loreto stammt aus einer Bauernfamilie, musste nach nur sechs Jahren Schule in die Fabrik, stieß mit 17 zu einer revolutionären Gruppe und nahm 1992 am gescheiterten Putsch der Bolivarischen Bewegung teil. Als Hugo Chávez 1998 die Präsidentschaftswahl gewann, wurde er, wie schon erwähnt, ein Jahr später Bürgermeister von Libertador und war überzeugt, nur die Armen - die Beleidigten und Entrechteten seiner Gemeinde - könnten das aufbauen, was ihnen fehlt. Deshalb dürfe es keinen Graben zur lokalen Regierung geben. Loreto und sein Stab verzichteten auf jede Art von Hierarchie, übertrugen Rechte der Stadt auf die Gemeinden und gaben Macht an die kommunalen Räte ab. Und sie blieben dabei gesetzestreu - genau das sah die Dezentralisierungsklausel (Artikel 184) der neuen Bolivarischen Verfassung von 1999 vor.
Acht Jahr später verfügt Libertador über eine neue Struktur: Es gibt 35 "soziale Territorien". In ihnen sind Bürger vereint, die ähnliche Probleme sowie ein gemeinsames Projekt haben und sich einer Umgebung zugehörig fühlen. Zwischen 1.000 und 15.000 Menschen gehören zu einem "Territorium", das jeweils eine Verwaltung wählt und dabei zwischen verschiedenen Kandidatenlisten entscheiden kann. Die Arbeit in diesen Gemeinderegierungen ist freiwillig und wird - bis auf die Unkosten - nicht entlohnt.
In einem der sozialen Territorien, dem Zentrum der Mittelschicht von Libertador, setzte sich die Kandidatenliste der Opposition durch. "Viele rechte Oppositionelle beteiligen sich sehr aktiv in den Gemeinderäten", erzählt Bürgermeister Loreto. "Sie wollen nicht am Rande stehen, wenn die Räte ihre Sozialprogramme und lokalen Projekte angehen. Das ist durchaus hilfreich, um politische Spannungen zu entschärfen."
Ansonsten ruht die Volksmacht auf zwei Säulen. Jedes soziale Territorium umfasst kleine oder größere Gemeinschaften, die jeweils ihren eigenen kommunalen Rat haben - 204 davon gibt es derzeit in Libertador insgesamt. Jeder Rat und jedes Territorium bestimmen auf Versammlungen jeweils die zehn dringendsten Vorhaben für das kommende Jahr. Dann tritt der städtische Planungsausschuss zusammen und prüft in der Regel die ersten drei davon - wenn es die Finanzen erlauben auch mehr. Es wird erwogen, wie vielen Bürgern das Vorhaben nutzen würde, wie hoch die Kosten wären und wie lange eine Anfrage anhängig ist. Die Ergebnisse präsentiert der Ausschuss in einer weiteren Versammlung dem jeweiligen Territorium und gibt Empfehlungen für einzelne Vorhaben. Die Versammlung kann dem zustimmen oder um erneute Prüfung bitten, auch wenn ein gewünschtes Projekt als zu teuer erscheint.
Kommt man überein, werden die benötigten Mittel den kommunalen Räten zugeteilt, denen es überlassen bleibt, Material zu kaufen und Arbeitskräfte oder Unternehmen zu engagieren. Durch den Rückgriff auf das Know How in den Gemeindenetzwerken bleiben die Kosten niedrig - was nicht ausgegeben wird, können die Gemeinden für andere Zwecke verwenden. Bürgermeister Loreto schätzt, dass pro Jahr eine Million Dollar allein dadurch gespart werden, weil private Profite entfallen. "Wir haben zum Beispiel 184 Millionen Bolivar (90.000 Dollar - die Red.) für den Hochwasserschutz bereitgestellt, aber die Gemeinderäte benötigten nur 47 Millionen. Folglich wurden mit dem verbliebenen Geld Straßen befestigt. "In einem anderen Fall erhielt ein Rat 80 Millionen, um einen Bezirk mit Strom zu versorgen - aber für diesen Preis schafften sie drei."
Loreto legt Wert darauf, dass 74 Gesundheitszentren von Nachbarschaftsräten gebaut wurden, die anfangs sogar die Ziegelsteine selbst herstellten. "2008 sollen 48 Grundschulen errichtet werden, zur Kommunalisierung der Bildung, wie es heißt." Außerdem wollen die Bürger von Libertador in jedem sozialen Territorium ein Kulturzentrum etablieren, gewöhnlich als Amphitheater. Acht davon sind schon im Bau. In einigen Fällen beschlossen Bürgerversammlungen, erst ein Kulturzentrum zu bauen und dann die Straße zu befestigen oder Straßenlaternen zu installieren. Fidel Hernández: "Es kann keine Revolution ohne Schönheit geben".
Der sichtbare Fortschritt wird von zwei Untersuchungen bestätigt, zu denen es im Mai 2007 kam. Die erste ergab, die Bürger wünschen sich vorrangig eine bessere Gesundheitsversorgung und mehr Bildungseinrichtungen. Bei der zweiten Umfrage bezeichnete fast niemand Gesundheit und fast niemand Bildung als hauptsächliches Problem.
Eine Kommunalregierung auf Straßenebene - doch das greift zu kurz
Hugo Chávez bekräftigte 2006, die Wahl kommunaler Räte solle überall in Venezuela Priorität genießen. Vor einem Jahr erklärte er die Räte zu "Institutionen der Volksmacht", zur Urform eines neuen Volksstaates. Im April 2007 wurde ein entsprechendes Gesetz verabschiedet und mittlerweile gibt es im ganzen Land mehr als 10.000 Räte.
Insofern hat Libertador Pionierarbeit geleistet, nun aber bereiten die neuen Bestimmungen Kopfzerbrechen. Die Regierung in Caracas wollte die Räte frei wissen von der abtötenden Hand der traditionellen Staatsbürokratie und verfügte daher, dass die Bürgermeister sich an diesen Volksorganisationen nicht beteiligen dürfen. Das mag für eine Stadt wie Valencia, die von der Opposition regiert wird, angemessen sein - in Libertador schlägt es der Realität ins Gesicht.
Bürgermeister Loreto will gern einräumen, dass die Exekutive manchmal lieber autark sein will und Beamte zuweilen Entscheidungen treffen, ohne die Bürgerversammlungen einzuberufen. Auch komme es vor, dass eine Kandidatenliste alle Führungspositionen für sich beanspruche, weil sich sonst niemand dafür interessiert. Das werde sich legen, meint die Kommunalbeamtin Omaira Carvallo: "Wenn die Leute das Erreichte sehen, werden sie ihre Apathie abschütteln".
Auf den ersten Blick mag Venezuelas Volksmacht in den Kommunen bloß als formale Struktur erscheinen - eine Kommunalregierung auf Straßenebene. Doch das greift zu kurz, denn die Räte entstanden als Teil einer enormen Bewegung auf nationaler Ebene: der Bolivarischen Revolution. Diese Bewegung entstand dank der Massenmobilisierung gegen den Versuch der alten Oligarchie, im April 2002 die gewählte Regierung durch einen Putsch zu stürzen, sie wuchs durch die inszenierte Blockade der Wirtschaft 2003 und das Anti-Chávez-Referendum im August 2004. Argenis Loreto erinnert sich, seinerzeit hätten die noch jungen Gemeinderegierungen in Libertador als Verteidigungskomitees gedient. Sie versuchten die Bevölkerung mit Lebensmitteln, Koch-Gas und Benzin zu versorgen. "Das war wundervoll", erinnert sich Loreto. "Schnell hatten wir ein Netzwerk von über 200 Geschäften, die notwendige Güter vertrieben und damit die Revolution verteidigten."
Zwischentitel von der Redaktion
Monthly Review, gegründet 1949, zählt als Periodikum zu den bekanntesten theoretischen Zeitschriften der US-Linken. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie den Verhältnissen in Mittel- und Südamerika; siehe auch www.monthlyreview.org
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