Zahm und verängstigt

Indiens soziale Bewegungen Die große Zeit der Mobilisierung scheint vorbei - auch dank der Nichtregierungsorganisationen (NGOs)hat die politische Gegenkultur an Einfluss verloren

An der einst von Mahatma Gandhi geführten indischen Unabhängigkeitsbewegung wollten sich in den fünfziger Jahren viele soziale und religiöse Reformer messen, doch ihr Einfluss blieb auf die jeweiligen Gemeinschaften beschränkt. Dennoch, einige Gruppierungen konnten einen Trend setzen. Die Schulungskampagnen von Kerala Shastra Sahitya Parishad (KSSP) zum Beispiel initiierten eine stille Bildungsrevolution, obwohl die KSSP nur im Staat Kerala aktiv war. In den sechziger Jahren wuchs auch die Gewerkschaftsbewegung und verlor just in dem Augenblick an politischer Statur, als sie sich mit etablierten Parteien wie dem Indischen Nationalkongress (INC) verband.

In den achtziger Jahren wurden neue Bewegungen vorzugsweise von jenen getragen, die von riesigen Bauprojekten betroffen waren. Zwei von ihnen wurden mit der Zeit immer stärker: die Narmada Bachao Andolan (NBA/Bewegung "Rettet den Narmada") und das Nationale Fischarbeiter-Forum (NFF). NBA entstand aus dem lokalen Widerstand gegen das gigantische Staudammprojekt am Narmada-Fluss und wuchs zu einer breiten nationalen Koalition zum Schutz der Umwelt und zum Kampf gegen alle Mega-Projekte, die der ortsansässigen Bevölkerung schaden. Auch andere marginalisierte Sozialbiotope versuchten sich immer wieder Gehör zu verschaffen: etwa die Scheduled Castes (die "registrierten Kasten" vom unteren Ende der Kastengesellschaft).

Bald hatte Mahatma Gandhis Lebensstil nur noch Erinnerungswert

Die Globalisierung hat diese Widerstandskultur brachial verändert, es entstand eine völlig neue Situation, die alle erfasste und das bis dahin gültige Denken entwertete. Geld und Märkte, Handel und Profit, Mobilität und Effizienz wurden zu Schlüsselbegriffen nicht nur für den Erfolg, sondern das Überleben. Selbst unter den Ärmsten gab es viele, die sich bereit fanden, alte Überzeugungen von Gerechtigkeit, Frieden und nachhaltiger Entwicklung fahren zu lassen. Auch erwarten mittlerweile die Mitglieder der meisten Gewerkschaften von ihrer Führung einen sozialpartnerschaftlichen Kurs, der sich an den Interessen der Unternehmer orientiert. Zugleich haben viele Sozialaktivisten ihren Idealismus verloren. Während früher die Armen nach Veränderung riefen, aber teilweise nicht recht wussten, wie sie ihren Protest artikulieren sollten, scheint heute die große Herausforderung darin zu bestehen, die Armen überhaupt von der Notwendigkeit eines Wandels zu überzeugen. Worin also könnte die Rolle sozialer Bewegungen in einer globalisierten politischen Ökonomie bestehen?

Mahatma Gandhi hatte beschlossen, mit den Armen zu leben und zu kämpfen. "Solange der letzte meiner Landsleute kein Kleid hat, um seine Nacktheit zu bedecken, werde ich mir keinen zweiten Rock zulegen", antwortete er einmal auf die Frage, weshalb er immer den gleichen Kittel trage. Seine Anhänger machten einen Heiligen aus ihm, bald jedoch hatte sein Lebensstil nur noch Erinnerungswert. Die Gandhi-Bewegung starb mit ihm - und es dauerte nicht lange, bis die indischen Politiker den Khadi-Stoff, das handgewebte Symbol der von Gandhi propagierten Dorfwirtschaft, zum Folklore-Element degradierten und nur noch zu Sonntagsreden anlegten.

Natürlich gab es weiter Pioniere der freiwilligen Arbeit, die mit den Armen litten und sie über ihre Rechte informierten. Dieser Freiwilligenarbeit wurde allerdings bald ein Regelsystem übergestülpt, das die Aktivisten bereitwillig hinnahmen: Sie ließen sich registrieren, sie durften nur dann zu legalen Märschen aufbrechen, wenn sie die Aufsicht des Innenministeriums akzeptierten. Mit der Registrierung wuchs freilich auch der Wunsch nach Büroräumen und deren adäquater Ausstattung - und so wurden aus vielen informellen Bewegungen allmählich Nichtstaatliche Organisationen (NGOs), die wiederum glaubten ohne Gelder, Büros, Angestellte, Fahrzeuge und Einfluss auf die Mächtigen nichts mehr erreichen zu können.

Heute nennen sie sich "professionelle Sozialarbeiter" und haben Gelder, Büros und Einfluss. Aber sie haben im Zuge ihres Aufstiegs die Armen hinter sich gelassen. Sie predigen den sozialen Wandel und können nicht ganz verstehen, weshalb die Armen sich nicht an ihren Foren, Workshops und Kampagnen beteiligen. Das Schlagwort lautet "Partizipation der Bevölkerung". Alle schwören, die Geldgeber bestehen darauf. Da aber die NGOs keine Freiwilligenarbeit mehr leisten und nicht mehr mit den Armen leben, verpuffen die im einem relativen Komfort geschriebenen Programme. Manche Bewegungen haben für ihre Transformation in NGOs teuer bezahlt: Ihre Mobilisierungskraft ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Dieser Trend hat dazu beigetragen, dass die Armen in Utopien - sprich: im mühsamen Kampf um Veränderung - keinen Sinn mehr erkennen, stattdessen den schnellen Wandel wollen und nur noch schwer zu motivieren sind.

Viele NGOs haben vergessen, weshalb Gandhi und Mandela so effektiv waren

Andererseits operieren die globale Wirtschaft und die globale Politik in einem völlig neuen Kontext, in dem Werte wie Freiheit und menschengerechte Entwicklung nur noch einem Gebot unterworfen sind: "Folgt dem Markt!". Obwohl es Raum für politische Intervention gibt, verharren viele Bewegungen am Rande der Politik - trotz der numerischen Macht der Wähler, die sie zu vertreten vorgeben.

Viele NGOs enthalten sich auch deshalb klarer Positionen, weil ihnen zunächst einmal die eigene Sicherheit am Herzen liegt, sie wollen ihre hart erarbeiteten "guten Beziehungen" mit der Regierung nicht aufs Spiel setzen. Nur lässt sich kein Krieg gewinnen, wenn man sich vor jeder Schlacht drückt. Die meisten NGOs haben vergessen, dass die effektivsten Führer sozialer Bewegungen wie Gandhi oder Mandela nie um eine offizielle Erlaubnis baten, um das tun zu können, was sie taten. Sie haben einfach getan, woran sie glaubten. Heute sprechen die meisten NGOs lieber von "den Einschränkungen, denen wir unterliegen" als von den Möglichkeiten, die eine breite Mobilisierung bieten könnte. So gehen sie vor Wahlen lieber in die Defensive - und klagen danach lieber über die falschen Führer, die von der Bevölkerung "wieder einmal" gewählt wurden.

Es kommt hinzu, dass sie keine konkreten Alternativen bieten. Als Anfang der neunziger Jahre mit der Deregulierung in Indien die ersten wirtschaftsliberalen Reformen eingeleitet wurden, diskutierten NGOs, Gewerkschaften und Linksparteien in Workshops über die Konsequenzen dieses Wandels. Auf die Idee, über Alternativen und Gegenwehr auf regionaler Ebene nachzudenken, kamen nur die wenigsten. Folglich blieb den Arbeitern, Bauern oder Landlosen nichts anderes übrig, als sich mit der neuen Realität zu arrangieren. Als vor wenigen Jahren die zweite Reformwelle in Form einer totalen Öffnung der Märkte anrollte, konnten die NGOs nur noch dafür plädieren, dass man die soziale Sicherheit der Armen doch bitteschön nicht ganz aus den Augen verlieren möge.

Der Autor war bis 1993 Koordinator der Schweizer Entwicklungsorganisation Swissaid, von 1997 bis 2000 Direktor des kanadischen Hilfswerks South Asia Partnership, heute ist er Berater diverser sozialer Bewegungen.


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