70 Euro für zwei Mal Kommen

Bedürftigkeiten und Kontrollverlust Als Freier genießen Männer, was sie sich sonst nicht leisten können

Warum hören sich die wenigen Berichte, die es von Freiern über ihre Besuche im Bordell und auf dem Straßenstrich gibt, eigentlich so langweilig an? Im Buch Die Wahre Lust von Marcel Feige, in dem sich drei Freier-Interviews finden, klingt das so: "Heute gehe ich gelegentlich zu einer Prostituierten, nicht regelmäßig und auch nicht zu bestimmten Anlässen, meist, wenn mir danach ist." "Vor zwei Wochen in Brüssel war ich beispielsweise bei einer netten Rumänin, sie kostete 70 Euro für zwei Mal Kommen und 13 Euro fürs Zimmer, also ganz normal, aber schön." "Obwohl der Akt damit ziemlich schnell beendet war, war es mir nicht einmal unangenehm."

Selbst in anonymen Befragungen schämen sich Männer, von ihren Beweggründen für den Bordellbesuch zu erzählen. Die Freier haben offenbar Angst, die Diskriminierung und Abwertung, die Prostituierte erfahren, könnten auf sie übertragen werden. Demgegenüber stehen die Erlebnisberichte von Sexarbeiterinnen, die - sowieso schon kriminalisiert und verachtet - nicht viel zu verlieren haben und oft aus dieser Position heraus um die Anerkennung ihrer Dienstleistung kämpfen. Verweigert wird ihnen diese Anerkennung von einer Gesellschaft, in der sich die Tabus hartnäckig halten - nicht zuletzt durch das Verhalten der Männer, die ihr Freiersein vom restlichen Leben abtrennen. So haben Befragungen von Sexarbeiterinnen gezeigt, dass das seit 2002 geltende deutsche Gesetz, in dem Prostitution als Beruf anerkannt und die 1901 gesetzlich definierte Sittenwidrigkeit aufgehoben wird, bis heute nicht den erwünschten Effekt zeigt.

Was wird hier eigentlich tabuisiert? Unsere Welt ist voll von sexuellen Angeboten, Porno- und Sexindustrie boomen, die Fernsehprogramme sind durchsetzt mit pornografischen und sexuellen Szenen. Vermutungen über eine versteckte Subkultur der Prostitution scheinen zu diesem Phänomen nicht zu passen. Weshalb fällt es Freiern dann so schwer zu beschreiben, warum sie Prostituierte aufsuchen und was sie mit ihnen tun?

Aus schriftlichen Berichten von Sexarbeiterinnen und aus Gesprächen mit einigen von ihnen weiß ich, dass heterosexuelle Freier sich etwas gönnen wollen, dass sie Entspannung und Abwechslung suchen. Einige wollen speziellen sexuellen Vorlieben nachgehen, die sie mit ihrer Partnerin nicht ausleben können. Eine weitere Gruppe ist auf der Suche nach einer Beziehung - diese Freier verwechseln, was die Sexarbeiterin ihnen vorspielt, mit der Realität, obwohl sie selbst diese Rolle bestellen und entlohnen. Aber was bedeutet es, sich etwas Gutes zu tun, sich zu entspannen, sich Abwechslung zu verschaffen? Was ist an einem Bordellbesuch oder an einem Date mit einer Prostituierten im Auto so entspannend?

Die wenigen wissenschaftlichen und soziologischen, sich vortastenden Berichte, die es über den heterosexuellen deutschen Freier gibt, stimmen mit den Darstellungen weiblicher Prostituierter überein: Im Bordell, im Club und im Auto werden Männer so angenommen, wie sie sind. Sie können sich stundenlang unterhalten, ohne sich zu fragen, wie sie dabei wirken. Sie können schnellen Sex einfordern, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen, können sich fallen lassen und die Kontrolle verlieren in einem strikt abgegrenzten Rahmen. Sie können Zärtlichkeit verlangen, wenn sie diese wünschen, müssen nicht sensibel, nicht verantwortlich sein, sich nicht erkundigen - sie brauchen ihr Gegenüber, die Sexarbeiterin, nicht als Menschen zu berücksichtigen. Die Erfüllung ihrer Bedürfnisse hat eine therapeutische Funktion - die Männer entspannen sich und lassen es sich gut gehen.

Die Tatsache, dass Männer bei Prostituierten die Kontrolle ohne Gesichtsverlust abgeben können, verweist auf gesellschaftliche Forderungen, denen sie außerhalb der Bordelle ausgesetzt sind. Im Konkurrenz- und Karrierekampf, so der Männerforscher Michael May, wird Männern die Rolle des kontrollierten Strategen abverlangt, der seine stabile männliche Identität auf einen dominierenden Habitus gründet. Der Soziologin Christiane Howe zufolge müssen Männer in der heterosexuellen Beziehung aktiv sein, dabei sensibel und auf die Frau zentriert, Passivität ist ihnen versagt: "Demgegenüber steht die weibliche Seite der Medaille. Das weibliche Begehren, die sexuelle Begierde und der Wunsch nach Aktivitäten dürfen und können offensichtlich im Rahmen privater, persönlicher Beziehungen kaum oder gar nicht zugelassen werden." Dass Männer sich nicht trauen, ihre sexuellen Phantasien in der Partnerschaft anzusprechen, deutet unter anderem auf die repressive Norm der Heterosexualität hin.

In dem Maße, wie der weibliche Körper zur Projektionsfläche des Mannes wurde, entwickelte sich die Aufteilung der Frauen in zwei Gruppen: die der zur sexuellen Entsagung gezwungenen, aber zum Engel stilisierten Ehefrau, die selbst keine sexuellen Wünsche mehr haben durfte, und die der verdorbenen Prostituierten, der die sexuelle Dienstleitung zum Preis ihrer eigenen Verachtung abverlangt wurde. Auch der wissenschaftlich veraltete Mythos von der ständigen Notwendigkeit der männlichen Triebabfuhr ("Dampfkesseltheorie") erzählt wahrscheinlich mehr über kulturelle Konstruktionen als über die "Biologie" des Mannes. Dennoch spukt er noch in unseren Köpfen. Um sich seiner Männlichkeit zu versichern, braucht der Freier weder Frau noch Mann, sondern sein eigenes Begehren als Garanten seiner Aktivität und Identität.

Wirklich problematisch an der Prostitution bleiben Aids, Gewalt und Menschenhandel, die gemeinhin SexarbeiterInnen und Zuhältern angelastet werden. Nun ist allerdings eine solche Perspektive aufs Geschäft der Prostitution, bei der die Sexarbeiterin ins gesellschaftliche Abseits gedrängt wird, falsch gewählt. Vergessen wird dabei, dass die Prostituierten und ihre Zuhälter eine Dienstleistung für Männer ausführen. Wie auf dem Markt üblich, bestimmt die Nachfrage das Angebot. Ohne Freier gäbe es also weder Gewalt noch Menschenhandel. Freier sind auch beteiligt an der Ausbreitung von Aids und anderen Krankheiten. So haben Untersuchungen und Befragungen von SexarbeiterInnen ergeben, dass die Nachfrage nach "Sex ohne Gummi" groß ist und seit Beginn der neunziger Jahre ständig zunimmt. Die Angaben über die Zahl der Freier, die "ohne" wollen, schwanken zwischen 30 Prozent (Angaben von Sexarbeiterinnen an der deutsch-polnischen Grenze 2002) und 80 Prozent (Angaben von Sexarbeiterinnen am Schweizer Präventionsprojekt "Don Juan" 1999/2000). Der Wunsch, keine Kondome zu benutzen, steigt mit zunehmendem Freieralter; er ist besonders verbreitet bei Männern ab 45 Jahre.

Täglich nehmen mindestens eine Million heterosexueller Männer in Deutschland die Dienste der Sexarbeiterinnen in Anspruch. Ein, wie man weiß, auch für den Staat lukratives Geschäft - er verdient an den Besuchen wie an der Porno- und Sexindustrie mit. Nicht bekannt ist die Zahl zusätzlicher sexueller Dienstleistungen durch in der Illegalität arbeitende Sexarbeiterinnen, die in den Statistiken nicht erfasst werden. Zwar ist es erwiesenermaßen eine verkürzte Behauptung, alle illegalen Prostituierten würden mit Gewalt zur Prostitution gezwungen - viele verdienen freiwillig ihr Geld auf dem Sexmarkt, jedoch unter schlechten Arbeitsbedingungen. Soll man Freiern daher empfehlen, nur solche Orte aufzusuchen, an denen SexarbeiterInnen arbeiten, die einen deutschen Pass oder andere legale Papiere besitzen? Konsequenter wäre es, die Legalität der freiwillig in Deutschland arbeitenden SexarbeiterInnen zu fordern - auch und gerade als Freier, der ihre Dienste in Anspruch nimmt. Schließlich ist Sexarbeit seit 2002 ein anerkannter Beruf, und so wie jeder qualifizierten Fachkraft aus dem Ausland für die Zeit ihres Arbeitsvertrages ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zusteht, sollte auch die Qualifizierung "SexarbeiterIn" aufenthaltsrechtlich anerkannt sein. Dafür spricht die offensichtliche Nachfrage nach nichtdeutschen Frauen, an denen viele Männer ihre "Natürlichkeit, Lockerheit und Wärme" (Osteuropa), ihre "Schönheit" (Asien, Afrika) und ihr "Temperament" (Lateinamerika) schätzen. Natürlich sind solche Zuschreibungen rassistisch. Aber da der gesamte Prostitutionsmarkt auf Projektionen beruht - seien es Projektionen in Phantasien, in Rollenspielen oder an fremde Kulturen - ist die rassistische nur eine unter vielen Zuschreibungen, zumal manche Sexarbeiterinnen ihren Wert und ihre Professionalität auch mit Hilfe solcher Zuschreibungen definieren.

Mittlerweile versuchen Kampagnen, Freier zur Mitarbeit beim Kampf gegen Gewalt zu gewinnen. So arbeiten die Bremer Aktion "Männer setzen Zeichen gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution" (www.menschenhandel-bremen.de) oder die Initiative des Deutschen Frauenrats anlässlich der Fußball-WM ("Rote Karte für Zwangsprostitution") darauf hin, bei den Freiern ein Bewusstsein für die eigene Verantwortung zu schaffen.

Judith Siegmund ist Künstlerin und Philosophin. Im Rahmen ihrer Videoarbeit Fremde Freier interviewte sie russischsprachige Sexarbeiterinnen zum Thema deutscher Freier.


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