Seit Journalisten immer öfter und mit wechselndem Glück Bücher schreiben, zeigt sich, dass die Zeitgeschichte ihre Domäne ist. Sie kennen die Archive ihrer Blätter. Sie können Fakten und Details so aufbereiten, dass die Lesenden nicht irregemacht werden. Sie können Frontlinien und Bündnisse bei den politischen oder gesellschaftlichen Protagonisten sichtbar machen, ohne weiterreichende Schlüsse mitliefern zu müssen. Zumal bei Letztgenanntem tun sich Historiker auf ihren Lehrstühlen schwerer, denn von ihnen wird – so glauben sie – genau das verlangt: die Deutung des Ganzen. Darum warten Historiker auch lieber ab, bevor sie zu Geschichtsschreibern werden. Wenn bis dahin die Bücher schreibenden Journalisten recht fleiß
immer öfter und mit wechselndem Glück Bücher schreiben, zeigt sich, dass die Zeitgeschichte ihre Domäne ist. Sie kennen die Archive ihrer Blätter. Sie können Fakten und Details so aufbereiten, dass die Lesenden nicht irregemacht werden. Sie können Frontlinien und Bündnisse bei den politischen oder gesellschaftlichen Protagonisten sichtbar machen, ohne weiterreichende Schlüsse mitliefern zu müssen. Zumal bei Letztgenanntem tun sich Historiker auf ihren Lehrstühlen schwerer, denn von ihnen wird – so glauben sie – genau das verlangt: die Deutung des Ganzen. Darum warten Historiker auch lieber ab, bevor sie zu Geschichtsschreibern werden. Wenn bis dahin die Bücher schreibenden Journalisten recht fleiXX-replace-me-XXX223;ig waren, tut das ihren Werken nur gut.Der Welt-Journalist Robin Alexander war überaus fleißig. Er hat über zwei Jahre hinweg alles registriert, was zum Thema „Merkel und die Flüchtlingspolitik“ – so lautet ein Untertitel seines Buchs Die Getriebenen – aufzuschreiben war. Dieser Titel bereitet Schwierigkeiten. Das Herausheben der Bundeskanzlerin im Untertitel hätte den Titel Die Getriebene nahegelegt. Wie kam der Plural zustande? Ist die ganze Bundesregierung gemeint, die Union, alle Parteien in Deutschland, alle Regierungen in Europa? Sind die Geflüchteten ingesamt gemeint oder die Asylsuchenden? Zudem fällt auf, dass entgegen üblichem Brauch die Kanzlerin hier lediglich mit Nachnamen genannt wird. Dass bei Helmut Schmidt immer der Vorname mitgenannt wird, ergibt sich aus der mangelnden Eigentümlichkeit des Namens Schmidt. Aber andere prominente Politiker werden zumindest im Buchtitel stets mit ganzem Namen genannt. Was also will der Autor uns damit sagen?Aus solcher Frage erwachsende Skepsis schwindet indes schnell, wenn man mit der Lektüre der Kapitel beginnt. Gleich der erste Satz des ersten Kapitels lautet, mit Zitat: „,Eine Situation wie die des Spätsommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen‘, erklärte Angela Merkel im Dezember 2016, als sie sich auf dem CDU-Parteitag erneut für eine Kanzlerkandidatur bewarb.“ An diesem Satz stört nur das schlechte Deutsch. Man bewirbt sich nicht „für“, sondern „um“ etwas. Doch das könnte heutzutage auch einem Professor in den Schreibcomputer laufen. Und bei der Ernsthaftigkeit von Alexanders Thema sollte man sich auch nicht dabei aufhalten.Tatsächlich fasst dieser erste Satz das ganze bisherige Geschehen, um das es in diesem Buch geht, in einen Blick. Und der Autor fährt fort: „Fast im selben Atemzug fügte sie hinzu: ,Dass diese besondere humanitäre Notlage dennoch so bewältigt werden konnte, wie sie bewältigt wurde, dass sie geordnet und gesteuert werden konnte, das wird für immer mit dem Jahr 2015 als herausragende Leistung unseres Landes verbunden sein.‘“ Sie hätte weiter hinzufügen können, „als meine herausragende Leistung“, aber das tat sie wohlweislich nicht. Alexander tut es auch nicht. Aber er fährt anders fort: „Eine herausragende Leistung, die sich nie wiederholen darf. Dieses seltsame Versprechen ist die Grundlage von Merkels Kanzlerkandidatur 2017. Und sie hat gute Aussicht auf Erfolg.“ An solcherlei Aussagen lassen sich die Tücken journalistischer Schnellschüsse erkennen, auch wenn gar nicht hastig gearbeitet wurde. „Die Grenzen für die Flüchtlinge sind weiter offen. Aber es kommen keine mehr. Mit beidem sind die Deutschen sehr zufrieden.“Der KairosWie es dahin kam, erzählt Alexander in 17 Kapiteln. Jubelrufe und Hilferufe werden pünktlich notiert. Großherziges und Gemeines auf allen Ebenen der Politik findet sich sorgfältig registriert. Die Leistung der bayrischen Verwaltung wird gewürdigt. Beratungen werden nachgezeichnet: Kann man die Grenzen zumachen? Die einen sagen: Nein. Die anderen sagen: Man kann, es fragte sich nur, wie viele Tage die Öffentlichkeit die Bilder aushält, die vor der geschlossenen Grenze entstehen. Die Bilder, die am 4. September 2015 in Budapest 10.000 Geflüchtete zeigten, die sich dann entlang einer Autobahn zu Fuß auf den Weg nach Westen machten, wollte Angela Merkel weder aushalten noch den Deutschen zumuten. Die Grenzen blieben offen. Ohne Personenkontrolle kamen die Menschen nach Deutschland.Die Deutschen waren begeistert, „Deutscher Rausch“ überschreibt Alexander ein Kapitel. Der Rausch verflog, die Leistungen blieben. Die Kanzlerin bekam Ärger, erst mit den Bayern, dann mit den Europäern, am wenigsten in ihrer eigenen Partei, der CDU. Aber auch hier wurden die Diskussionen schärfer.Doch Angela Merkel, die begriff, dass dies der historische Augenblick, der Kairos war, der ihre Kanzlerschaft zu etwas Besonderem werden ließ, hielt an Fixpunkten ihrer Flüchtlingspolitik fest. Das bedeutet aber: nicht an einer grenzenlosen Politik, wie sie ihr unterstellt wurde. Sie arbeitet das Problem von den geografischen Rändern her ab – wie zuletzt in Ägypten und Tunesien. Wenn ein gedankenloser Historiker, den Alexander zitiert, die Grenzöffnung von 2015 als „illegitimen deutschen Alleingang“ in die Tradition fataler deutscher Sonderwege stellte, ist das nicht nur abwegig, sondern steht selbst in der Tradition der Totschlagargumente mittels Hinweis auf eine unselige Vergangenheit. Andere Großintellektuelle äußerten krasse Verdikte, wieder andere, die sonst immer reden, schwiegen jetzt.Bei den laufenden Ereignissen ist Alexander ausgezeichnet, bei der Gewichtung weniger. Er verkauft dem Leser etwa eine Geschichte, in der der CSU-Politiker Peter Gauweiler Ministerpräsident Horst Seehofer zugeredet habe, die CSU bundesweit auszudehnen, wie es schon einmal Franz Josef Strauß gewollt habe. Seehofer habe ernsthaft zugehört.Das ist eine Räuberpistole. Das kann Seehofer nicht erörtert haben. Fragt sich nur, wer dem Autor die Geschichte erzählt hat. Sicherlich Gauweiler, denn da heißt es, Strauß’ Vorhaben sei unter anderem an Helmut Kohls Generalsekretär Heiner Geißler gescheitert. Kohls Generalsekretär war damals aber Kurt Biedenkopf. Dieser Fehler mit dem Sozialpolitiker Geißler wäre dem Sozialpolitiker Seehofer nicht unterlaufen. Doch der Journalist hat’s stehen lassen.Placeholder infobox-1
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