Helmut Schmidt, der fünfte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, ist tot. Er starb im hohen Alter von 96 Jahren. Es wird vielleicht noch etwas dauern, bis wir ganz begreifen werden, welches Glück dem Land beschieden war, dem er als Kanzler diente. Und zu diesem Glück trug er nicht nur als Regierungschef bei. Zuvor schon hatte der Sozialdemokrat in wichtigen Ämtern Herausragendes geleistet. Nach seinem Sturz als Kanzler nahm er eine anspruchsvolle publizistische Tätigkeit auf, schrieb viel beachtete Bücher und wurde zu einer von den meisten Deutschen hoch angesehenen Persönlichkeit – vielleicht mehr noch als in seiner aktiven Zeit als Politiker.
Dieser unübersehbare Zwiespalt lässt schon erkennen, was seine dennoch erstaunliche Karriere belastete. Einerseits kann Schmidt – wie keineswegs alle Kanzler – mit Leistungen in seiner politischen Vita aufwarten, die sich in dazugehörenden Bildern fest im historischen Gedächtnis der Deutschen eingeprägt haben. Bei Adenauer war es die Heimholung der Kriegsgefangenen aus Russland nach zehn Jahren. Bei Willy Brandt war es der Kniefall in Warschau, bei Kohl die Freude über die Wiedervereinigung. Bei Helmut Schmidt sind die ebenso ausdrucksstarken Bilder vom Unglück überschattet. Als Innensenator von Hamburg bewährte er sich bei der großen Sturmflut im Februar 1962 mit außerordentlicher Kühnheit. Er koordinierte die Arbeit der Rettungskräfte unter Einbeziehung der Bundeswehr und von NATO-Truppen. „Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in jenen Tagen“, sagte er später dazu. Solche Souveränität machte ihn außerordentlich populär.
15 Jahre später hatte er als Kanzler die härtesten Konfrontationen mit dem Terror der Roten Armee Fraktion zu meistern. Unter seiner politischen Verantwortung stürmten Beamte der Antiterrortruppe GSG 9 in Mogadischu eine von Terroristen entführte Lufthansamaschine und befreiten die Geiseln. Zur selben Zeit aber wurde in einem Versteck der gekidnappte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ermordet. In der Wahrnehmung ließ sich das eine nicht vom anderen trennen. Das Bild des unter dem ungeheuren Druck der Lage stehenden Staatsmannes stand für beides.
Der wichtigste Schritt
Derart spektakuläre Ereignisse beherrschen die Gedanken an Helmut Schmidt. Nicht vergessen sollte man jedoch, dass es der Wirtschaftsfachmann aus Hamburg war, der Ende der 1970er Jahre zusammen mit seinem französischen Partner und Freund Valéry Giscard d‘Estaing die Europäische Währungseinheit auf den Weg brachte, der wohl wichtigste Schritt in der Geschichte des europäischen Zusammenwachsens seit den Jahren Adenauers und Charles de Gaulles. Ebenso wenig darf Schmidts Initiative zur Nachrüstung der NATO mit modernen Mittelstreckenraketen unterschlagen werden, die als Antwort auf die Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion in den 1980er Jahren aufgestellt wurden. Gegen die Nachrüstung gab es in der Bundesrepublik gewaltige Proteste und zuvor in diesem Umfang nie gesehene Demonstrationen. In Moskau war man der Ansicht gewesen, die demokratischen Staaten im Westen hätten nicht die Kraft, gegenüber ihrer Bevölkerung die rüstungspolitischen Maßnahmen durchzusetzen. Die Aufstellung erfolgte und damit war der Weg zu einem fatalen Rüstungswettlauf eingeschlagen, den die Sowjetunion am Ende aufgrund technologischer und wirtschaftlicher Rückständigkeit nicht gewinnen konnte.
Den NATO-Doppelbeschluss freilich konnte Schmidt nicht mehr als Kanzler gestalten – er hatte auf ihn begleitende und eindämmende Verhandlungen gehofft –, weil seine Partei nicht mehr bereit war, ihren Kanzler zu stützen. Zu der heftigen Kritik an der geplanten Raketenaufstellung kam auch massiver Unmut wegen der Wirtschaftspolitik, in der die FDP Reformen verlangte, die vielen Sozialdemokraten zu weit gingen. Durch geschickte Manöver gelang es Schmidt, den Liberalen die Schuld an seinem Unterliegen beim konstruktiven Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 zuzuschieben, durch das Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt wurde.
Als der 64-Jährige nach acht Jahren an der Regierungsspitze abtreten musste, war die SPD gespalten. Ihr Vorsitzender Willy Brandt war in den letzten Jahren, besonders im Kampf um den Doppelbeschluss, spürbar von ihm abgerückt. Aus der Friedensbewegung und der jungen Sammlungsbewegung der Umweltschützer hatte sich eine neue Partei gebildet: die Grünen. Auf Jahre hin verbissen sich Sozialdemokraten in den Entschluss, nicht mit ihnen zu koalieren. Auch das führte zu den langen Jahren der Regierungszeit Helmut Kohls; als aber eine neue Generation in der alten Partei zum Zuge kam, schien es lange so, als sei es jetzt erst recht um das Ansehen Schmidts in der SPD geschehen.

Foto: Imago/Sven Simon
Die Gründe dafür sind allerdings nicht nur im Tagesgeschäft zu finden. Sie liegen tiefer und geben Auskunft über die Tragik der Generation, der Schmidt angehörte. 1918 wurde er als Sohn eines Lehrer-Ehepaars in Hamburg geboren, der Vater war der uneheliche Sohn eines jüdischen Privatbankiers. Es gelang der Familie, diese Tatsache durch Manipulation der Papiere zu vertuschen, was notwendig war, um Nachteilen zu entgehen, die ihn als „Vierteljuden“ (nach der Sprachregelung der Zeit) betroffen hätten. Schmidt besuchte in Hamburg die Lichtwarkschule und bestand 1937 das Abitur. Es folgten sechs Monate Arbeitsdienst, dann kam das Militär und dabei blieb er bis 1945, zuletzt als Oberleutnant.
Als Hitler zur Macht kam, war Schmidt 14 Jahre alt. Von den zwölf Jahren der Diktatur hatte er acht beim Militär verbracht, nicht als Nationalsozialist, aber doch als junger Mann, der seine Zukunft nicht gefährden wollte. Das war für die meisten Angehörigen seiner Generation selbstverständlich. Für die Prägungen, die sie in diesen Verhältnissen erfuhren, waren sie, wenn nicht blind, so doch unempfindlich. Sie wurden eben so, wie man unter solchen Umständen wird. Da gab es nichts, woran einer Anstoß genommen hätte.
Schneidig und zweischneidig
Das änderte sich nach 1945 zunächst nur wenig, dann aber, je mehr Zeit verstrich, umso nachdrücklicher. Konrad Adenauer hatte der Generation der Deutschen misstraut, die unter Hitler Beruf und Karriere absolviert hatten. Er hatte sich alter Nazis bedient, weil er dazu keine Alternative sah. Auch die SPD bemühte sich, junge Nationalsozialisten von gestern für ihre Ortsvereine zu gewinnen. Schmidt hielt auch schon mal einen Vortrag vor SS-Männern, denen er bei dieser Gelegenheit attestierte, was für ein tapferer Haufen sie gewesen seien. Man musste mit den Leuten vorwärtskommen, die da waren, ob anständig oder nicht.
Schmidt war, wie sorgfältige Untersuchungen zu seiner Biografie plausibel gemacht haben, anständig gewesen. Aber das hatte nicht seine Prägung, seinen scharfen, auch arroganten autoritären Stil gemildert. Den akzeptierten zunächst viele, der galt als schneidig, selbstbewusst, nachahmenswert. Aber auf das Ganze der bundesrepublikanischen Geschichte hin gesehen, geriet Schmidt damit in eine Zwischenphase, auf die man von zwei Seiten mit zunehmend kritischem Blick sah. Aus der Perspektive Adenauers schlugen da unbedarfte Jungen einen allzu forschen Ton an. Aus dem Blickwinkel der 68er-Generation trat hier unangenehm in Erscheinung, was mit dem Kriegsende 1945 überwunden sein sollte. Die Leistungen dieser durch Diktatur und Krieg schwer gezeichneten Generation war unübersehbar. Aber die Art ihres Auftretens, ihre Sprache, ihr Anspruch, alles zu bestimmen, wurden mit zunehmender Schärfe abgelehnt. Ihre Tugenden wurden relativiert – und das von niemandem schärfer als von dem Alt-68er und zeitweiligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der sagte, mit diesen Tugenden – Ordnung, Fleiß, Zuverlässigkeit – hätte man auch ein KZ leiten können. Schmidt war empört, aber das nützte ihm nichts. Der Zeitgeist stand gegen ihn.
Das Verhältnis zu Brandt
Schwerer wiegend für Schmidts Wirksamkeit als Politiker sollte eine andere Folge seiner Prägung durch das Militär einer Diktatur sein. Der langjährige Offizier, der Führung in der Hierarchie der Truppe gelernt hatte und dem die ihm unterstellten Soldaten nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam folgen mussten, tat sich schwer, Führungsstärke im zivilen Rahmen zu zeigen. Hier waren ihm sowohl sein Vorgänger im Kanzleramt, Willy Brandt, als auch sein Nachfolger Helmut Kohl klar überlegen. Sie mussten als Persönlichkeiten Zustimmung bei ihren Leuten gewinnen, um politisch führen zu können, mussten sich bemühen, Gespräche offen zu halten, entgegengesetzte Vorschläge anzuhören und zu diskutieren. Das war Schmidt nicht gegeben, das hatte er nicht gelernt. So war es kein Zufall, dass sich in späten Jahren Brandt und Kohl menschlich viel näher standen als Brandt und Schmidt. Das Verhältnis von Schmidt zu Kohl war die meiste Zeit durch die Verachtung bestimmt, die der Erstere für den Letzteren empfand und die nicht selten in Auftritten von peinlicher Arroganz zum Ausdruck kam. Allerdings machte Kohl mit seiner oft unbeholfen wirkenden Art es dem eleganten Hamburger auch leicht, ihn wie tumb aussehen zu lassen. Darunter hat Kohl gelitten.
Aber das änderte nichts daran, dass Schmidts Zeit vorbei war und auch die Auftritte Schmidts nicht in die Zeit passten, die auf seine Kanzlerschaft folgte. Der gestürzte Kanzler hatte indessen eine neue Aufgabe gefunden; der Hamburger Verleger Gerd Bucerius – zu Adenauers Zeiten CDU-Bundestagsabgeordneter – machte ihn zu einem der Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit. Dieses damals hoch angesehene Blatt wurde nun für Jahrzehnte das Forum für Helmut Schmidt. Hier war er ganz Hamburger, hier durfte er sich als Intellektueller geben, hier verkehrte er von gleich zu gleich mit Menschen, vor denen er Respekt hatte: der Gräfin Marion Dönhoff, die stets den Sozialdemokraten Sympathie entgegengebracht hatte, später auch mit Richard von Weizsäcker, der hier das Terrain gefunden haben mochte, auf dem der von der CDU herkommende frühere Bundespräsident neue geistige Gefährten umarmen konnte.
Von der publizistisch sicheren Ebene der Zeit aus konnte Schmidt darangehen, Bücher zu schreiben, mit denen er seine Sicht von Welt und Menschen unter das Volk brachte, es wurden ungewöhnlich erfolgreiche Bücher. Schmidt wuchs, je älter er wurde, in die Rolle eines Weltweisen hinein. Die etwas schrullige Art, die man gemeinhin mit einem solchen Titel verbindet, bestätigte er durch die Unnachgebigkeit, mit der er bei der Gelegenheit und unter allen Umständen auf dem Genuss seiner Menthol-Zigaretten bestand. Nicht umsonst war der Hamburger Monopolist für Zigarettenfilter, Körber, sein Freund gewesen – wie auch der stoische Pfeifenraucher Siegfried Lenz. Selbst das Fernsehen, das längst schon das Rauchen aus seinen Live-Sendungen verbannt hatte, musste sich dem Starrsinn des Alten beugen. Die Deutschen freute es. So mochten sie den Mann, den man als jungen Politiker „Schmidt-Schnauze“ genannt hatte, weil der dem damals Alten, Adenauer, so kräftig Kontra gab.
Seit Generationen haben die Deutschen Helmut Schmidt unendlich viel zu verdanken. Er war einer ihrer großen Kanzler.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.