War Adorno ein letztes Genie? "Der Geniebegriff wäre," so Adorno, "wenn irgend etwas an ihm zu halten ist, von jener plumpen Gleichsetzung mit dem kreativen Subjekt loszureißen, die aus eitel Überschwang das Kunstwerk in das Dokument seines Urhebers verzaubert und damit verkleinert". Diese Antwort steht ganz im Banne Kants, für den das Genie "ein Talent zur Kunst sei, nicht zur Wissenschaft". Wollte sein acht Jahre älterer Freund Horkheimer, als er Adorno in einem Nachruf ein Genie "unserer Zeit des Übergangs" nannte, als Künstler würdigen, um ihn als Denker zu schmälern? Sicher nicht! Sicher wollte der ältere Freund seine Hochachtung in eine Identität, einen Begriff, setzen. Nicht bedenkend, dass Adorno ein Freund des Nicht-Identische
chen war. Der Buchtitel stützt sich auf Horkheimer, und löst dabei ganz die Vorahnung Adornos ein. Dieser hatte nämlich befürchtet, dass seine Würdigung als Genie seine geistige Arbeit verkleinern könnte. Als Genie ausgezeichnet, würde man ihn als Künstler verehren, "um ihn gleichzeitig als Wissenschaftler unmöglich zu machen." Der Hannoveraner Soziologe Detlev Claussen, der in Frankfurt wohnt, zeichnet Adorno, wie er dem Leser unbekannt sein dürfte: eben als Künstler, als Musiker, der, zweiundzwanzigjährig, als frisch promovierter Philosoph 1925 von Frankfurt nach Wien auszog, um hier bei Alban Berg die Kunst des Komponierens zu perfektionieren. Auch das Klavierspiel, im Elternhaus bereits an der Seite zweier professioneller Musikerinnen, seiner Mutter und seiner Tante, gelernt, wollte er bei dem "wohl qualifiziertesten Pianisten in der Umgebung Schönbergs", Eduard Steuermann, verbessern. Der fünf Jahre ältere Eisler erhielt Privatunterricht bei Arnold Schönberg. Ein Ziel, das Adorno selbst anstrebte, das er aber nicht erreichte. Die Begabung Eislers scheint nicht unwesentlich daran beteiligt gewesen zu sein, dass Adorno wieder in seine Heimatstadt Frankfurt zurückkehrte, um sich dort, im bereits gegründeten "Institut für Sozialforschung", zu engagieren, das der Sohn eines reichen Frankfurter Bürgers, Felix Weil, als Stiftung an der Universität ins Leben gerufen hatte. Es sollte, so der Kommunist Weil, unabhängig sein, aber gleichzeitig akademische Akzeptanz genießen. Adorno soll noch wenige Jahre vor seinem plötzlichen Tod gesagt haben, es sei noch immer ein Trauma für ihn, dass er sich nicht ganz der Musik hingegeben habe. Für Adorno war Musik Revolution. "Der Zweck der Revolution ist die Abschaffung der Angst", schreibt er 1936 an seinen Freund Walter Benjamin. Die Musik sei Abschaffung von Angst. Musik sei Verdopplung. Claussen sieht in diesem ästhetischen Radikalismus Adornos die Schranke, die Adorno, anders als Bloch, Eisler und Brecht, vor dem Mythos der "glorreichen" Sowjetunion schützte. "Wer singt, ist nicht allein," schrieb Adorno, "er hört die Stimme, ein Anderes, was doch er selbst ist. Sich selbst zum Anderen werden, sich entäußern. Darin liegt eine Fülle von Momenten: Die Wendung gegen die Angst." Adornos Kulturkritik war von diesem Gedanken getragen.In Wien lernte Adorno den ungarischen Philosophen Lukács kennen, dessen Werke Theorie des Romans und Geschichte und Klassenkampf er noch in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard nutzte. Man sprach über den Kommunismus, "wie er von Lukács diskutiert wurde, wie von einer intellektuellen Option, Parteizugehörigkeit hatte für fast alle eher etwas von einem existentiellen Mythos, außer paradoxerweise für den exponierten Lukács selbst, der sich schon damals heftigsten Attacken von Seiten der Komintern ausgesetzt sah." Lukács Ästhetik stützt sich an mehreren Stellen anerkennend auf die Musiktheorie Adornos, dessen Analysen sich im wesentlichen stets auf seine frühe Formulierung stützte: Das kompositorische Subjekt sei "kein individuelles", sondern "ein kollektives. Aller Musik, und wäre es die dem Stil nach individualistischste, eignet unabdingbar ein kollektiver Gehalt: jeder Klang allein schon sagt Wir." Hier stimmte der Gleichklang zu Lukács.Doch das Interesse an Adorno ist heute weniger ein Interesse an seinem künstlerischem "Genie" als an seiner Gesellschaftstheorie, die er in den zwanziger Jahren in Frankfurt, Berlin und Wien von Kracauer, Benjamin, Lukács, Brecht, Bloch, Eisler empfing, um sie in den dreißiger Jahren im amerikanischen Exil bis zu seinem Tod 1969 besonders an junge Menschen, die auf der Suche nach einem anderen Leben als dem spätbürgerlichen waren, weiterzugeben. Doch in dieser Beziehung vermittelt Claussen wenig Kenntnis.Adornos Philosophie wird zwar im eifersüchtigen Spannungsfeld zwischen einzelnen Akteuren, wie Marcuse, Brecht, Bloch und immer wieder und besonders Lukács, geschildert, sie bekommt aber keine eigene Farbe, die ja auf die Akteure der Studentenbewegung zu wirken verstand. Claussen zitiert Adornos Hegelsche Umkehr "Das Ganze ist das Unwahre" als Hegel-"affirmativ". Clausen zeigt nicht, warum Adorno sich diesen Satz als Leitlinie nahm, um das Ganze, nach Auschwitz, in seiner unmenschlichen Wirkung auf den einzelnen Menschen zu brandmarken. Ein Zitat hätte ausgereicht, um das kritische Denken seiner Hegelumkehr deutlich zu machen. "Der Bürger," so Adorno, "ist tolerant. Seine Liebe zu den Menschen, wie sie sind, entspringt dem Haß gegen den richtigen Menschen." Alfred Schmidt, wohl einer der bekanntesten Adorno-Assistenten, der bei Claussen nur als Augenzeuge zitiert wird, der belegen soll, dass Adorno seine erste Frankfurter Vorlesung "mit einer Windjacke bekleidet" dozierte, schrieb über Adorno, dass er "die zu bloßer Methode verkommene Philosophie wieder als das versteht, was sie schon im Altertum war: als Lehre vom richtigen Leben des Einzelnen." Hieraus ergibt sich Adornos Widerspruch zu Hegel. Die Phänomenologie Hegels betrachtete die "Realität des Allgemeinen" als die "Bewegung der Individualität". Demgegenüber wollte Adorno die Dialektik von Individuum und Gesellschaft voll austragen. Adorno wollte auf die These hinaus, dass sich das Allgemeine in der kapitalistischen Gesellschaft nicht nur "durchs Zusammenspiel der Einzelnen" realisiert, sondern dass ebenso sehr die Gesellschaft "wesentlich die Substanz des Individuums ist". Adorno, anders als Lukàcs, glaubte nicht mehr an die Möglichkeit das Ganze zu erkennen. Er negierte den Begriff der Totalität und kaprizierte sich auf die Rettung des Individuums: "Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen." Die Dialektik von Individuum und Gesellschaft rückt in den Mittelpunkt von Adornos Denken. An ihr lässt sich seine Kulturkritik ablesen, die mit dem Prinzip Ernst macht, nicht Ideologie an sich sei unwahr, sondern ihre Prätention, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen."Das objektive Ende der Humanität besagt in Adornos Analyse, dass der Einzelne als Einzelner, wie er das Gattungswesen Mensch repräsentiert, die Autonomie verloren hat, durch die er die Gattung verwirklichen könnte." Lukács wird bei Claussen deutlich als Adornos zentraler theoretischer Widersacher erkannt. Doch statt die Widersprüche beider Denker exakt zu skizzieren, verläuft er sich in wüste Lukács-Beschimpfungen. Dieser von "linksradikaler Askese" gequälte Lukács, der selbst in einer hübschen Budapester Wohnung mit gutem Ausblick gelebt habe, werfe Adorno vor, er bevorzuge das "Grand Hotel Abgrund". Diesen Vorwurf wiederholt der Autor an drei verschiedenen Stellen seines Buches. Lukács´ Vorwurf vom "Grand Hotel Abgrund" geht auf einen Aufsatz zurück, in dem er den bürgerlichen Intellektuellen vorwirft, sie würden in ihren Analysen stets von der Ideologie ausgehen und in ihr stecken bleiben, statt das gesellschaftliche Sein in seinen Klassenwidersprüchen zu erkennen. In diesem, vom Ort des wirklichen Lebens entfernten, ideologischen Gewirr würden sie sich "häuslich" einrichten. "Das Grand Hotel Abgrund," so Lukács selbst, "verlangt von seinen Gästen keine Legitimation, nur die des geistigen Niveaus". Wenn er Adorno in einem Vorwort zur Theorie des Romans" diesen Vorwurf macht, so ist dies keine Kritik an Adornos Wertschätzung eines feinen Schweizer Hotels, sondern eben ein theoretischer. In Claussens Buch spricht nicht Adorno, wie er es im Vorwort ankündigt, sondern Claussen. Adorno stritt sich mit Lukács auf einem anderen Niveau, dies kann unbeschwert nachprüfen, wer in der Adorno-Gesamtausgabe des Suhrkamp-Verlages stöbert.Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie S. Fischer, Frankfurt am Main 2003, 485 S., 22,90 EUR
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