Es gibt in Europa eine riesige Kluft zwischen dem Europa der Bürger und dem Europa der Institutionen. Der vom Freitag durchgeführte Wettbewerb hat auf nachdrückliche Weise gezeigt, wie viel Lust es auf Europa in Deutschland gibt und mit welchem Engagement viele bereit sind, sich für die europäische Sache einzusetzen. Warum aber ist die offizielle Politik von soviel Skepsis gekennzeichnet? Warum gibt es mit der Alternative für Deutschland (AfD) zwar eine europakritische Parteigründung, die sich gegen das wichtigste politische Projekt der letzten zwanzig Jahre wendet, aber keine neue Partei, die sich für ein Europa der Bürger engagiert?
Ein Europa der Emphase und Vernunft
Das Europa der Bürger, so wie es uns im Wettbewerb begegnete, ist ein Europa der Solidarität und des bürgerschaftlichen Engagements. Es ist neugierig auf andere Kulturen und kümmert sich um die Schwachen. Politische Missstände wie in Ungarn werden offen angesprochen und in grenzüberschreitenden Aktionen kritisiert. Das Europa der Bürger ist ein Europa der Emphase und der Vernunft. Es ist emphatisch, weil es sich der Sache der Anderen annimmt und sich jeder Trennung in „Wir“ und „Die“ verweigert. Und es ist vernünftig, weil es auf Prinzipien beruht, von denen wir mit guten Gründen wollen können, dass sie zur Richtschnur des Handelns aller gemacht werden. Das Europa der Politik hingegen ist weder vernünftig noch emphatisch. Es ist das Europa der Exekutiven, des Verhandelns und des Lobbyismus, der Deals um Mitternacht und der Technokratie. Dieses Europa ist nicht schlecht und auch nicht illegitim.
Das Europa der Institutionen ist trotzdem bei weitem nicht so gut, wie es sein müsste. Seine wesentlichen Defizite sind schnell aufgezählt. Es wird von organisierter Unverantwortlichkeit beherrscht und kennt keinen zentralen Ort, an den man sich wenden könnte, wenn man mit seinen Politiken nicht einverstanden ist. Fragen über Fragen. Wer in Europa ist für das „soziale Europa“ zuständig? Wer für die Unternehmensbesteuerung? Und wer dafür, dass unsere Finanzpolitik immer stärker vom Denken in Angebot und Nachfrage geprägt wird?
Europa "löst Probleme", nicht mehr
Alle und niemand – genau das ist die Tragödie der EU. Europa macht weder gute noch schlechte Politik, sondern verweigert sich schlicht der politischen Debatte. Es produziert stattdessen Konsens und „löst Probleme“. Deshalb gibt es auch offiziell keine Alternativen, weder zum Euro noch zum Binnenmarkt. Auch nicht zur Militarisierung der europäischen Außenpolitik. All das ist scheinbar notwendig und wird deswegen von einer großen Koalition aus 27 Exekutiven zusammen mit den europäischen Institutionen betrieben. Aber ist das wirklich das Europa, das wir wollen? Ist es das Beste, was über 2.000 Jahre demokratischer Entwicklung haben hervorbringen können?
Für ein Europa der Alternativen
Die Antwort kann nur „Nein“ sein. Ein Europa der Institutionen, das dem Europa der Bürger angemessen wäre, müsste ein Europa der Alternativen und des gemeinsamen Streits um den richtigen Weg sein. In ihm wären verschiedene Meinungen zur Zukunft des Euro erlaubt und in seinen Institutionen würde kontrovers diskutiert werden. Im Europa der Bürger würde nicht nur über die Umsetzung von Binnenmarktrichtlinien gerungen; hier würden grundlegende ordnungspolitische Debatten geführt werden. Die Bürger würden sich in einem wirklichen europäischen Parlament über Fragen von allgemeiner Bedeutung streiten und darum ringen, wie Europa in Zukunft aussehen soll. Es wäre ein Europa, in dem die Selbstermächtigung der Exekutiven revidiert, der Europäische Rat entmachtet und der schleichende Staatsstreich gegen die Demokratie beendet würde.
Der vertriebene Souverän
Fast 60 Jahre europäischen Integrationsprozesses haben dazu geführt, dass die Demokratie heute nackt und ohne ihren Souverän dasteht. Das ist eine dramatische Entwicklung. Die nationalen Parlamente sind sukzessive entmachtet worden und haben heute einen immer engeren Korridor europarechtlicher Vorgaben zu beachten. Wirtschafts- und Sozialpolitik, Finanz- und Währungspolitik sowie Umwelt- und Agrarpolitik lassen sich ohne Brüssel gar nicht mehr denken. Gleichzeitig ist der aus den nationalen Parlamenten vertriebene Souverän aber auch nicht in Europa angekommen. Das Europäische Parlament darf noch nicht einmal darüber entscheiden, worüber es entscheidet.
Das Europa der Bürger, das wir brauchen, ist ein Europa, in dem sich die Parlamente wieder selbst ermächtigen – auch gegen den zu erwartenden Widerstand der Exekutiven. Alle bisherigen, von den Regierungen und dem Bundesverfassungsgericht betriebenen Versuche, die Marginalisierung der Parlamente zu beenden, sind gescheitert. Aus Ehrlichkeit muss man zugeben, dass all diese Maßnahmen niemals wirklich ernst gemeint waren. Oder hat das Bundesverfassungsgericht mit der Forderung nach einer Aufwertung der Parlamente tatsächlich geglaubt, dass eine Parlamentsmehrheit die von ihr selbst gewählte Regierung eng kontrollieren würde? Auch die Regierungen der Mitgliedstaaten dürften kaum wirklich daran geglaubt haben, dass das im EU-Vertrag vorgesehene Instrument der Subsidiaritätsklage auch nur ansatzweise effektiv sein würde. Der Begriff der Subsidiarität ist nicht mehr als ein unbestimmter Rechtsbegriff. Mehr noch: Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind überhaupt nicht in der Lage, in Ausnahmefällen ausreichend große Mehrheiten zusammen zu bringen, um einen Rechtsakt auch nur vorübergehend zu blockieren.
Das Herzstück eines neuen Europas
Was muss also passieren, um das Europa der Bürger und das Europa der Institutionen wieder zur Deckung zu bringen? Nichts weniger als eine Neugründung des demokratischen Souveräns. Der muss einen neuen europäischen Parlamentarismus schaffen. Was wir brauchen, ist ein neues Parlament der nationalen Parlamente, in dem die noch vorhandenen Reste demokratischer Souveränität sich zu einem neuen Europa der Bürger formieren. Ein solches Parlament kann wieder Vernunft und Emphase in das Europa der Institutionen bringen. Die nationalen Parlamente sind nach wie vor die einzigen Orte in Europa, in denen sich demokratische Souveränität konstituiert. Sie – und weder der Europäische Rat noch das Europäische Parlament – müssen das institutionelle Herzstück eines neuen Europas der Bürger sein.
Jürgen Neyer ist Professor für Politikwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und Mitglied der Jury des Europawettbewerbs
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