Jahrzehntelang war der ungarische Philosoph, Literaturkritiker und Kommunist Georg Lukács in den politischen und kulturellen Debatten präsent. Und dies sogleich in mehreren Ländern: in seinem Heimatland Ungarn, im Gastland Deutschland, als illegaler Funktionär in Österreich, im Exilland Sowjetunion, wo er zwölf Jahre verbrachte. Später kamen Frankreich, England und die USA hinzu. Seine Veröffentlichungen umspannen sechs Jahrzehnte und reichen von kulturkritisch-ästhetizistischen Aufsatzsammlungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg über einschlägige Werke zur internationalen Literatur und Philosophie bis zur mehrbändigen Ästhetik der Sechziger Jahre. Zur Zeit der Studentenbewegung des Westens war er als unbestechlicher Kommunist präsent. Noch im Jahr seines Todes, 1971, war er ein gefragter Interviewpartner in den Medien, sogar in den westdeutschen. Seine Werke erschienen in der DDR, wo er jahrelang eine dominierende Stellung innehatte, wie in der BRD, wo sich der Luchterhand Verlag um eine große Werkausgabe und zahlreiche Taschenbucheditionen verdient machte.
Doch was ist fünfzig Jahre nach seinem Tod am 4. Juni 1971 geblieben? Ist er ein toter Hund und teilt damit das Schicksal Georg Wilhelm Friedrich Hegels, dessen bahnbrechendes dialektisches Denken erst Marx und Engels wieder herausstellten? Welche Rolle konnte Lukács nach dem Untergang des Staatsozialismus spielen? In Ungarn hat die Regierung Orbán das Lukács-Archiv vor einigen Jahren geschlossen, um so jede Erinnerung an den weltberühmten Autor und jedes Gedenken an die kommunistische Vergangenheit auszulöschen.
Wie kann man dem versuchten Totschweigen entgegenwirken? Auch im Westen sind die meisten seiner Werke nur noch antiquarisch zu haben, Luchterhand bringt keine günstigen Taschenbücher mehr auf den Markt, die Tausenden von Studentinnen und Studenten den Zugang zu seinem Werk ermöglichten. Die große 1962 begonnene Ausgabe wird vom Aisthesis Verlag 2022 mit einem letzten Band abgeschlossen, aber eine neue Ausgabe seiner höchst aufschlussreichen Faschismusstudien wird es nicht geben. Die gerade erschienene Suhrkamp-Anthologie kann auf 500 Seiten nur einzelne Schlaglichter liefern. Es handelt sich dabei nicht um Auszüge, sondern um selbständige Aufsätze von 1910 bis 1970. Diese Beispiele sollen den Entwicklungsgang des Philosophen beleuchten, der als Kulturkritiker begann und über die Historisierung ästhetischer Formen und Genres reflektierte. Aber der Bruch, der schnelle Übergang von ästhetizistischen Kulturkritiker zum engagierten Marxisten und Parteifunktionär wird so nicht deutlich.
Einstiegspunkt für eine Lukács-Renaissance?
Auch die anderen Kehrtwendungen und Selbstkorrekturen – ein Charakteristikum des stets auf Selbstüberprüfung erpichten Lukács – werden nicht deutlich. Dem frühen Abschnitt ist zudem ein Drittel des Auswahlbandes gewidmet, womit die Gewichte verschoben werden. Lukács’ eigene Einschätzung wird ignoriert. Tatsächlich sind beide Herausgeber vom „genialischen“ Frühwerk angetan und erwarten sich offensichtlich hier einen Einsatzpunkt für eine Renaissance seiner Philosophie. Besondere Sympathie gilt auch der „wirkmächtigen“ Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Die restlichen Texte sind dem „Polemiker“ sowie dem späten, an ontologischen Fragen interessierten Lukács gewidmet.
Dass die Einordnung schwerfällt, kann man vor allem am ersten, von Axel Honneth verfassten Vorwort sehen. Er beschränkt sich darauf, die Wirkung von Lukács außerhalb des Marxismus zu beschreiben und landet bei einer Zweiteilung: Lukács habe nach 1918 sowohl die Rolle des am Geistigen interessierten Philosophen als auch die des auf das politische Wirken gerichteten, parteilichen Funktionärs gespielt, ohne eine Synthese zu schaffen. Honneth zeigt offen seine Vorliebe für das Geistige bei Lukács, das Essayhaft-Suchende, weshalb auch die Frühschriften (die Lukács selbst sehr kritisch sah) so stark betont werden. Dass gerade die marxistische Orientierung, das intensiv betriebene Studium der Schriften von Marx (sowie von Lenin und Luxemburg) zu neuen Einsichten geführt haben, sieht Honneth nicht. Für ihn sind Marxismus und Philosophie im Prinzip getrennte Bereiche. Hoffnungen auf das Proletariat als Agent der Geschichte hat er längst ad acta gelegt. Ansonsten wird nur das Buch „Der junge Hegel“ vorgestellt, die philosophische Ästhetik der sechziger Jahre wird nicht erwähnt.
Im zweiten Vorwort, verfasst von Rüdiger Dannemann (der Freitag 22/2021), wird dagegen der Zusammenhang zwischen Marxismus und Philosophie weit deutlicher thematisiert, doch auch hier gibt es merkwürdige Einschränkungen und Vorbehalte, etwa, wenn vom Marxismus als einem „Deutungsrahmen“ des 20. Jahrhunderts die Rede ist oder Lukács dafür kritisiert wird, dass er in der „Zerstörung der Vernunft“ die Polemik gegen den Faschismus fortgesetzt habe. Die wichtigen Faschismusstudien von 1933 und 1941/42 werden zwar vorgestellt, doch die Konzeption des Humanismus wird ebenso abgewertet wie die Orientierung am Vernunftbegriff, der als antiquiert gilt.
Offensichtlich wirken hier die Positionen der Frankfurter Schule nach, namentlich die berüchtigte Attacke Theodor W. Adornos, der Lukács die Frontalattacke gegen die bürgerliche Philosophie und deren Unfähigkeit, dem Faschismus etwas entgegenzusetzen, übelnahm. Tatsächlich ist gerade die „Zerstörung der Vernunft“ ein Schlüsselwerk. Es erschöpft sich keineswegs nur in Polemik, sondern zeichnet höchst subtil die irrationalen Tendenzen zwischen 1870 und 1933 nach. Obendrein liefert Lukács eine Geschichtsanalyse, die verständlich macht, warum gerade in Deutschland die faschistische Philosophie siegreich sein konnte. Hieraus ist auch für unsere Gegenwart zu lernen, in der seit den 1980er Jahren wieder irrationalistische Philosophien dominieren, die den gesellschaftlichen Fortschritt behindern, ja undenkbar machen. Weitaus schwieriger wäre es, an die große Ästhetik anzuknüpfen, die auf breiter Basis das emanzipative Potential der Künste vorführt und nebenbei das Vorurteil widerlegt, Lukács wäre nur ein Traditionalist gewesen. Aber dazu muss man das Riesenwerk erst einmal lesen.
Georg Lukács, Ästhetizismus, Marxismus, Ontologie. Ausgewählte Texte Rüdiger Dannemann und Axel Honneth (Hrsg.), Suhrkamp, 575 S., 28 €
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