Bremsen ist die Kunst

Sportplatz Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet diejenigen, die garantiert am allerwenigsten Ahnung vom Motorsport und speziell von der Formel 1 haben, ...

Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet diejenigen, die garantiert am allerwenigsten Ahnung vom Motorsport und speziell von der Formel 1 haben, immer auch die größten Verächter des Hochgeschwindigkeitsspektakels sind, eines, um es rundheraus zu sagen, erstklassigen Freizeitvergnügens, das weit mehr umfasst, als dem RTL-Reporter Kai Ebel bei seinen verblasenen, gossenjungenhaft vergaunerten Boxengasseninterviews zuzusehen oder den fast täglich angerührten Quark der Eselspresse zur Kenntnis zu nehmen, etwa den wahrlich grauenhaft nichtigen Bild-Aufmacher vom 20. März 2002: "Schweizer vergraulen Schumi - Er darf seine Traumvilla nicht bauen."
Es ist, ich wiederhole mich, zuweilen eine arge Last, was man als Formel-1-Addict ertragen, das heißt lesen muss. Einerseits quält einen die beklagte und mächtig bescheidwisserische Attitüde der aufgeklärten Kritiker, die entweder das "ökologisch unverantwortliche Herumgerase" anprangern oder nimmermüd´ uralte, tiefergelegte Witzchen über Michael Schumachers Kinn respektive des "Kerpeners" IQ in den Zeitungswald pflanzen. Andererseits nervt das unterdessen flächendeckende, zuverlässig holzdumme Gebabbel der Hochglanzmagazine, das ewig gleiche Gejuckel über - um hier nur das F-1-Special des Herrenuntergrundblattes GQ (3/2002) zu bemühen - "die härteste PS-Schlacht aller Zeiten", über die "Helden" des "letzten großen Männer-Mythos", die "Gladiatorenkämpfe", die "Hassduelle", über den "Nervenkitzel" und - "den klassischen Bruderkampf".
Jenen, den archaisch-biblischen Fight, sollen sich Ralf und Michael Schumacher erstmals vergangenen Juni beim Großen Preis von Europa auf dem Nürburgring geliefert haben (es kam beinahe zum Startcrash, ein gewöhnlicher Vorfall), und so sehr das ganze Kain-und-Abel-Gerede natürlich nichts denn reiner Quatsch und sportferner Theaterdonner war, so wahnsinnig und zugleich symptomatisch deuchte mir beispielsweise ein von leitender Hand in die sonst preußisch-stramm Formel-1-abstinente taz entsandter Kommentar zum - aufgemerkt! - "Dröhnen im Kopf", zum "Schmieröl im Hirn" und zur "Brutalität und Ignoranz" eines Geschehens, dem man vorher, siehe oben, garantiert nicht eine Sekunde lang beigewohnt hatte.
"Diese Formel-1-Piloten, deren Verhältnis und Verhalten die existentielle Frage nach der Stärke von Familienbanden ganz neu aufwirft", brummte es da, grammatikalisch leicht aus der Spur, seien "Rennautofanatiker seit jüngsten Jahren, geplagt vom pubertären Schmierölsyndrom". Pubertäres Schmierölsyndrom? Was meinte, was meint das? Abartige sexuelle Praktiken? Seltsame Fixierungen? Erklären konnte es mir selbst der hinzugerufene und in solchen Fällen unverzichtbare Boulevardpsychoonkel Horst-Eberhard Richter nicht, und so rauschte letztlich auch dieses Verdikt gegen den "Wahnsinn der 850-PS-Langeweile" (taz) folgenlos vorüber.
Wen es jemals zur Strecke zog, wer jemals vier, fünf Tage eines verlängerten Rennwochenendes unter gänzlich aggressionsfreien, angenehm feierlich gestimmten, gesprächsfreudigen und diskussionstrunkenen, der nationalen Erregung abholden Menschen verbrachte, der mag vielleicht der Frankfurter Rundschau beipflichten, die recht gewagt den "Urtrieb" entdeckte, "der Menschen zum Motorsport hinzieht". Was er zweifellos tut: die Motodrome Imolas, Monzas, Hockenheims den von stumpfem Geplärre und wüstem Gebelfer erfüllten Fußballstadien vorziehen, das Herumgammeln an der Piste dem Gedränge auf der Tribüne, den fröhlichen Fan-Gesangswettstreit dem widerlichen Gepöbel der Soccersupporter, das gesellige Albern und Faseln und Pseudoexpertengeschwafel über Chassis, Drehzahlen, Reifen, Fahrer und Teams dem fundamentalistischen, quasi religiösen Gekeife der Fußballnarren.
Die reale Formel 1, das Sport- und soziale Ereignis jenseits der Bildschirme und Redaktionsstuben, aktiviert ein kindliches, naives Begeisterungspotential - und zwar geschlechtsübergreifend. Die Sportwelt des Rennsports, das ist Spannung ohne RTL-Regie, das ist Krach ohne Bild, Gestank ohne Gestänker, das ist perplexes Gaffen und Stieren, wenn ein kleines Vehikel innerhalb weniger Meter von 260 auf 80 km/h herunterbremst. "Gas geben kann jeder Depp", lüftete Ex-Ferrari-Pilot Gerhard Berger eines der zahllosen Formel-1-Geheimnisse, "das Bremsen ist die Kunst".
Die Augenblicke der Live-Demonstration fahrerischer Fertigkeiten und technischer Möglichkeiten - ja, man haue und verlache mich - zu genießen: Diese Momente zweckfreier Gelöstheit beseitigen jeden Zweifel an einem fraglos herrlichen Zeitvertreib für Deppen und solche, die es werden möchten.
Allerdings, ich gebe es zu, andere Fragen bleiben - etwa jene, die die Tochter des geschätzten Kollegen Fritz Tietz aufwarf, "warum denn die Formel 1 eigentlich Formel 1 heiße, wo doch der Start immer erst um zwei sei"; oder warum ich der lärmenden Pressewelt nicht entsage und tatsächlich zweiseitige Interviews über die "Arbeit am diesjährigen Motor P82" lese, ohne ein einziges Detail des ventilierten Ingenieurwissens zu verstehen.
Antworten liefert mir nicht mal die vorzügliche Schweizer Wochenfachzeitschrift Motorsport aktuell. Aber man muss nicht alles begreifen. Staunen genügt.

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