Ich kann kaum noch erzählen

Briefe aus Palästina Kurz nach dem Gaza-Krieg hat Julia Deeg für mehrere Wochen das Westjordanland bereist und in ihren Briefen nach Deutschland festgehalten, wie es ihr erging

Sieben Jahren ist es her, dass Julia Deeg bei einer Besuchsreise nach Israel in das vom israelischen Militär total belagerte Hauptquartier von Yassir Arafat in Ramallah geraten war. Israel sah in ihm noch den Hauptfeind, bevor diese Rolle auf die Hamas übertragen wurde. Von den 30 Tagen unter Verletzten, ohne Strom und Nahrung, hat sich Julia nicht zu Hause in Deutschland erholt, sondern vielmehr einige Monate lang palästinensische Ambulanzen auf ihren prekären Touren durch Checkpoints begleitet. Jetzt ist sie wieder einmal in Jerusalem, Ramallah und in anderen Orten der palästinensischen Westbank und unterstützt den gewaltfreien Widerstand, der so viel Mut erfordert, aber international so wenig gewürdigt wird. Dass ihr persönlicher Einsatz herausgestellt wird, möchte sie eher vermeiden: Sie und ihre Freunde wünschen, dass die Aufmerksamkeit auf die Bedrängten und Verlassenen gerichtet wird, nicht auf sie. Dabei sind sie selbst ein Lichtblick. Ihre Bescheidenheit gehört mit zu ihrem Mut. Aber es sind Briefe von Julia gekommen, beim fünften Brief fragte ich an, ob wir sie in gekürzter Form veröffentlichen dürfen. Dazu gab sie ihre Zustimmung.
Marina Achenbach, Redakteurin des Freitag

* * *

Wessen Antlitz kein Licht wirft, wird nie ein Stern werden.
William Blake um 1790.

Montag, 26. Januar 2009 / Tel Aviv

Hier siehst du überall an den Wänden die Unterstützung für den Krieg. Die Bevölkerung beschäftigt sich nicht mit dem, was den Menschen in Gaza geschehen ist. Wer mehr fragt, der verrät sein Land. Nur die wie Yossi, wie die jungen Anarchisten, die sich andere Nachrichten im Internet suchen und mit Palästinensern reden, haben es begriffen. Sie sind blass und geschockt. Sie sind ausgestoßen aus der israelischen Gesellschaft, die einig ist in ihrer Einigkeit. Sie sind aus ihren eigenen Familien ausgeschlossen. Mit ihrem Wissen und ihrer Empathie für die Besetzten leben sie in einer anderen Realität als der Rest ihrer Landsleute. Einer, der vorher nicht politisch war, aber Freunde bei den Anarchisten hatte und dadurch erfuhr, was in Gaza geschah, ist starr, als er mir sagt, dass er dieses Land nicht mehr als seines sehen kann. Er hat sich von einem unpolitischen süßen Punk zu jemandem gewandelt, der sagt, er möchte kein Israeli mehr sein. Der Schrecken steht dieser Handvoll Menschen ins Gesicht geschrieben. Der Rest lebt in nationaler Euphorie und ist, wie es scheint, bereit für den nächsten Kriegseinsatz.

Mittwoch, 28.Januar 2009 / Ramallah

Gestern Abend bin ich hierher in die Westbank gekommen, treffe meine Freunde. Proteste gegen die Gaza-Bombardierung wurden ja von der palästinensischen Autorität selbst unterdrückt, die sich zum Handlanger der Besatzer macht, selbst verhaftet, auch foltert. Aber es scheint ein wütender Brand unter der Oberfläche zu schwelen. Wütend auf die Besetzung, wütend auf Fatah, wütend auf Hamas. Es ist ätzend. Aber gleich werde ich bepackt mit einem Einrad und Faschingsverkleidungen und gehe Kinder besuchen und hoffe, dass dies ein wenig Leben bringt.

Samstag, 31. Januar 2009 / Ni‘lin

Der Tag begann wunderschön. Überall brechen die satten Farben des Frühlings durch. Wie ich mich daran so bedingungslos freuen konnte, weiß ich abends nicht mehr. Ich fahre im Sammeltaxi nach Ni‘lin. Wie jeden Freitag ist eine Demo geplant, sie wird niedergeschlagen werden wie jeden Freitag, was ich bei der Fahrt durch die hügelige Landschaft erfolgreich verdränge. Ich freue mich an holprigen Umwegen, die der Wagen machen muss, an den Straßen vorbei, die nur Israelis benutzen dürfen. Die Fahrt führt durch superschöne Dörfer, die Idylle ist immer mal wieder durchbrochen von Schrauberplätzen mit Autos und gestapelten Metallteilen und einem Freiluftbett dazwischen, auf dem ein Opi schläft.

Hundert Meter vor dem Dorfeingang der Checkpoint der Armee, um Leute wie mich daran zu hindern hineinzugelangen. Die Frau neben mir zupft mir den Ring aus der Nase, zieht mir ein Tuch übers Haar, drückt mir ein arabisches Buch in die Hand, in das ich mich vertiefe. Die Frauen um mich herum machen sich größer. Die Tür wird aufgerissen, Soldaten pieksen in den Tüten herum, wollen Pässe von einigen Männern sehen, und wir werden durchgewunken. Schallendes Lachen in unserem überfüllten Sammeltaxi.

Mauer und Straßen der Siedler haben das Dorf Ni'lin von seinem Land fast ganz abgeschnitten. Als internationale und israelische Aktivisten haben wir uns den Protesten des Dorfs angeschlossen. Die "Demo" geht nach einem Gebet los. Die Soldaten warten schon. Kaum 20 Meter gegangen, keine anderthalb Slogans gerufen, sind wir unter vollem Beschuss von Tränengas. Unter dem Gas ersticke ich fast und renne wie alle panisch zur Klinik zurück. Nur die Jungs des Dorfes sind durch den unerträglichen Nebel gesaust, haben sich zwischen Olivenbäumen verteilt: Mit Tüchern ums Gesicht und Schleudern in der Hand springen sie gewandt durch die Haine und schleudern den hightech-ausgerüsteten Soldaten Steine entgegen. Vier Jungs des Dorfes haben bisher ihr Leben lassen müssen. Wir husten, übergeben uns und fluchen, holen Luft, um uns wieder einige Minuten dem Irrsinn entgegenzustellen. So geht es einige Stunden um jeden Meter: um das Recht auf eine angemeldete Demonstration im palästinensischen Dorf.

Das Sammeltaxi nimmt mich wieder mit zurück. Es scheint alles zu Ende zu sein. Doch fast gleichzeitig mit uns kommt in Ramallah eine Ambulanz mit einer Mitaktivistin, Ulrika Andersson aus Göteborg und einem 19-jährigen Jungen aus Ni’lin, im Hospital an. Die Soldaten hatten sich im Gehen nochmal entschlossen, mit scharfer Munition in die Gruppe zu schießen. Sie trafen die beiden mit 0.22-Kaliber-Kugeln, die erst seit Kurzem eingesetzt werden, in Bein und Fuß. Ein Kamerateam kam ins Krankenhaus, um Ulrika zu interviewen. Der Junge aus Ni‘lin neben ihr wurde von ihnen nicht einmal begrüßt, erzählte sie danach. Ist ja normal, dass ein Palästinenser getroffen wird.

Montag, 2. Februar 2009 / Ein schöner Tag. Nablus

Die atemberaubende Kulisse von Nablus ist eingebettet in ein luftiges Tal. Der reiche Regen, den es sonst kaum gibt, lässt die knalligsten Blumen blühen. Das Gras um die Olivenbäume totales Grün, dazwischen vereinzelt Kühe, Esel, Pferde, die sich satt fressen, wie sonst das ganze Jahr nicht. Jetzt ist die Zeit, wo hier gepflügt wird. Die Terrassen sehen aus, wie frisch gekämmt. Überall Hirten, die ihre Herden führen. Neben dem "Drama der Besatzung" will ich mir die Wahrnehmung des Schönen nicht nehmen lassen, wie der palästinensische Dichter Mahmud Darwish schrieb: "Wir lieben das Leben, wenn wir zu ihm finden."

Auf jedem Hügel thront ein Militärcamp oder eine Siedlung. Jeden Tag ein Hirte, ein Bauer, eine Bewohnerin verletzt oder beraubt von Soldaten oder Siedlern. Das ist unsere Arbeit hier: Familien begleiten zu ihrer landwirtschaftlichen Arbeit, bei der sie täglich angegriffen werden. Vor den Siedlern habe ich Angst. Der Umgang mit ihnen hat nichts mit Logik zu tun. Sie sind rechtsradikale, religiöse Hooligans: Gott hat ihnen das Land gegeben. Auf Pferden, mit Hunden kommen sie, haben ein Recht auf Waffen und greifen an. Ein Siedler wird selbst für den Mord an einem Palästinenser nicht vor Gericht gestellt. Für sie ist es egal, ob wir Internationale sind, sie haben einigen schon die Knochen gebrochen oder bewusstlos geprügelt. Wenn Siedler kommen, dann rufen wir - so absurd es klingt - die israelische Polizei oder Armee.

Samstag, 14. Februar 2009 / Jayyous

Das Nicht-Begreifen der Leute in Deutschland lässt mich fast verstummen. Ich kann kaum noch erzählen. Auch das Dorf Jayyous ist von Mauer und Zaun umgeben. Am Tor – ihrem Tor, ihrem Zugang in das abgeriegelte Dorf – versammelt sich die Armee. Y. und ich sind mit einer Kamera auf das Dach des ersten am Tor gelegenen Hauses gestiegen. Wegen des guten Überblicks wird dieses Dach meist von Scharfschützen besetzt. Dem Eindringen der Soldaten hat sich die Familie mit internationaler Unterstützung seit einigen Wochen entgegenstellt, nun suchen sie nach einem anderen Haus. Den Weg ins Dorf haben Jungs mit Steinen verbarrikadiert, mit einem Bulldozer schieben die Soldaten die Straße frei und fahren gleich mit ihm das Tor des nächsten Hauses um. Da reicht es Y. und mir, wir gehen runter, um sie mit uns zu konfrontieren. Für einen Moment hält unser Auftauchen sie von dem Haus ab. Doch sie dringen weiter ins Dorf ein, ballern mit Tränengas und Rubberbullets auf alle, die sich ihnen in den Weg stellen. Der Widerstand, das sind die Kids mit Steinen. Aber die Soldaten laufen unbesorgt in Zweier- oder Dreiergruppen zu Fuß durchs Dorf. Sie wissen, dass keine Gefahr für sie von den Bewohnern ausgeht. Die werden bestraft für ihre Dreistigkeit, Rechte einzufordern, sich nicht vertreiben oder verbiegen zu lassen. Darum geht es: Um diesen Willen, der gebrochen werden soll.

In der Mitte des Dorfes etwa ist es klar, dass die Soldaten wieder in ein Haus eindringen wollen. Y. und ich stehen auf der Anhöhe darüber, ich filme. Ein Soldat hebt ohne Vorwarnung sein Gewehr und schießt auf unsere Köpfe. Die Kugel pfeift zwischen unseren Gesichtern durch. Dann dringt unten die Armee in das Haus ein. Ich sehe Geschubse und eine Familie, die sich dicht gedrängt in die Tür stellt. Plötzlich fällt ein Schuss, und das Tal ist erfüllt von Schreien und Weinen. Ein Junge wird davongezerrt. Ich filme, was ich filmen kann – peng, wieder saust eine Kugel an meinem Kopf vorbei. Ich renne an dem Getümmel vorbei nach unten zu dem Jeep, in den sie den Jungen zerren, ihm das Gesicht umwickeln, Handschellen anlegen. Zurück am Haus wird klar, was geschehen ist: Sein Bruder hat ihn umarmt und festgehalten, um seine Festnahme als Geisel zu verhindern, woraufhin ihm ein Soldat kurzerhand in den Arm geschossen hat.

Da kommt das halbe Dorf heraus. Frauen weinen und zerren an den Soldaten und an dem Jeep. Es ist das erste Mal, dass die Soldaten verunsichert sind. In dem Tumult richten sie ihre Gewehre direkt in die Gesichter der Leute, werfen Soundbombs und bewegen sich mit der Jeep- und Bulldozer-Kolonne in Richtung Tor. Der Opa des Jungen verhandelt ständig mit dem Commander um seinen Enkel. Nach endlos wirkenden Verhandlungen gibt er ihn frei. Mein ungetrübter Respekt gilt diesen Leuten, den Frauen, Kindern, Alten, Männern, wie sie sich mit ihren Körpern den Soldaten entgegenstellen, mit nichts als ihren Körpern.

Die Menschen sind gefangen. Keiner ist da, um sie zu beschützen. Ich sehe eine Gesellschaft, die zermahlen wird in den Mühlen der Weltpolitik. Es gibt vieles, was ich furchtbar finde. Und doch will ich bleiben und nicht zurück. Die Menschen hier haben viele Gründe kaputt zu sein. Ich liebe sie für die unglaubliche Menge Leben, die sie noch haben. Und will bleiben. Und werde doch bald wieder in Berlin sein.

Julia Deeg (28) ist in München aufgewachsen und zur Schule gegangen. Sie zog dann nach Berlin und machte eine Ausbildung als Bildjournalistin. Seit Jahren engagiert sie sich in der Soldaritätsbewegung mit dem palästinensischen Volk und unterstützt den gewaltfreien Widerstand gegen die israelische Besatzung

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